Wohin mit dem verstrahlten Wasser?

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(Foto: Flickr)

Zehn Jahre nach dem Super-GAU sind die Arbeiten in Fukushima längst nicht abgeschlossen. Der Atomingenieur Lake Barrett berät die Bergungsteams. Im Interview spricht er über die Fortschritte – und das ungelöste Problem der Entsorgung von zigtausend Tonnen kontaminiertem Wasser.

Die Katastrophe nahm in der Dunkelheit ihren Lauf. Als am 11. März 2011 die Erde in Japan bebte, fiel im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi der Strom aus. 45 Minuten später überrollte ein meterhoher Tsunami das Kraftwerksgelände, zwölf der 13 Notstromaggregate wurden zerstört. Ohne Strom konnte das Wasser nicht abgepumpt werden, schlimmer noch: Ohne Strom versagte die Wasserkühlung der Reaktorkerne. Drei der sechs Reaktoren waren zum Unglückszeitpunkt zu Wartungsarbeiten heruntergefahren. Doch bei den Reaktoren eins, zwei und drei bestand durch den Ausfall der Kühlsysteme die unmittelbare Gefahr einer Kernschmelze.

Ohne eine Telefonverbindung zur Außenwelt und ohne Nachricht, ob ihre Familien nach dem Tsunami in Sicherheit waren, begannen die Arbeiter zu improvisieren. Sie suchten Batterien zusammen, bauten sogar Autobatterien aus den Fahrzeugen auf dem Firmenparklatz aus und schlossen sie zusammen. So konnten sie Instrumente betreiben, um zumindest die Wasserhöhe und die Druckwerte in den Reaktoren zu messen. In den Stunden und Tagen nach dem Tsunami leiteten sie erst Trink-, dann Salzwasser in die Reaktoren, um die Kerne zu kühlen. Vergeblich. In allen drei Reaktoren kam es zur Kernschmelze. Am Nachmittag des 12. März zerstörte eine Explosion das Dach von Reaktor eins. Zwei Tage später folgte eine Explosion in Reaktor drei, am 15. März in Reaktor vier. Radioaktive Strahlung entwich in die Umwelt, verstrahltes Wasser floss ungehindert ins Meer.

Der Betreiber Tepco schickte Experten nach Fukushima, um die Kernschmelzen unter Kontrolle zu bringen und mit den Aufräumarbeiten zu beginnen. Nach den Explosionen lagerte sich hoch radioaktives Cäsium 137 auf dem Kraftwerksgelände ab. Um zu verhindern, dass Wind den verstrahlten Staub weiter verteilt und die Luft kontaminiert, wurden Filter installiert und die Gebäude mit Kunstharz besprüht, der den Staub bindet. Fast das gesamte Gelände wurde in den Monaten nach dem Unfall asphaltiert oder mit schnell abbindendem Beton bedeckt. Die Kosten allein für die Arbeiten am Kraftwerk werden bis heute auf 200 Milliarden bis 470 Milliarden Dollar geschätzt.

Lake Barrett hat ein halbes Jahrhundert Erfahrung in der Kernenergie. In seinem ersten Job war der Atomingenieur 1966 für Tests an einem Atom-U-Boot zuständig. Später arbeitete er bei der US-Aufsichtsbehörde Nuclear Regulatory Commission (NRC). In dieser Position wurde er 1979 ins Atomkraftwerk Three Mile Island nach Pennsylvania geschickt, wo sich der neben Tschernobyl und Fukushima bislang schwerste Atomunfall ereignet hatte. Elf Jahre lang war er dort für die Aufräumarbeiten verantwortlich. Die Erfahrung machte ihn zu einem gefragten Berater in Fukushima. Lake Barrett ist heute im Halbruhestand, wie er es nennt. Wir erreichen ihn am Telefon in seiner Heimat in Florida.

Herr Barrett, wann erfuhren Sie von der Naturkatastrophe in Japan und der Situation in Fukushima?
Lake Barrett: Ich war zu Besuch bei meiner Schwester in Connecticut und habe dort vom Erdbeben und dem Tsunami gehört. Ich wusste, dass die Japaner in der Gegend Atomkraftwerke haben, eines davon hatte ich im Laufe meiner Karriere sogar mal besucht. Zuerst habe ich mir nicht viele Gedanken gemacht, weil die Japaner sehr gut auf Erdbeben und Tsunamis vorbereitet sind. Zu dem Zeitpunkt wusste niemand, dass das Werk überhaupt keinen Strom hatte. Am Tag danach sah ich dann im Fernsehen die Bilder der Explosion von Reaktorgebäude eins. Ich wusste genau, was das war: eine Wasserstoffexplosion.

Was sind die wichtigen ersten Schritte bei Atomunfällen wie diesen?
Barrett: Oberste Priorität ist, den Kern zu kühlen und die Kernschmelze aufzuhalten. Dann geht es darum, die Radioaktivität so gut wie möglich unter Kontrolle zu halten. Dafür muss im zweiten Schritt ein Sicherheitssystem wieder hergestellt werden, etwa eine Sicherheitshülle um den beschädigten Reaktor. Das geht Hand in Hand damit, die radioaktive Verseuchung von Luft und Wasser zu stoppen. Und im letzten Schritt muss der radioaktive Abfall sicher entfernt und gelagert werden.

Wann wurden Sie von Tepco für die Arbeiten in Fukushima hinzugezogen und was war ihr erster Eindruck?
Barrett: Im September 2013 bin ich zum ersten Mal hingeflogen, um mir die Lage vor Ort anzusehen. Die Situation in den Reaktoren war stabilisiert. Aber das Team hatte Probleme damit, die Verseuchung des Wassers unter Kontrolle zu bekommen.

Welche Probleme gab es dabei?
Barrett: Zum Beispiel die Kontamination am Boden: Wenn es regnete, wurde das radioaktive Wasser in die Regenwasserleitungen gespült und lief von dort ins Meer. Oder das Eindringen von Meerwasser in die beschädigte Anlage und dessen Dekontamination. Hinzu kam die Reinigung des kontaminierten Wassers, mit dem die Reaktoren gekühlt wurden. Tepco arbeitete mit einer Reihe von Unternehmen zusammen, um die radioaktiven Isotope Cäsium und Strontium aus dem Wasser zu filtern. Die verschiedenen Systeme waren kompliziert und hatten einen hohen Wartungs- und Instandhaltungsaufwand. Manchmal leckten die Tanks und mussten repariert werden.

Um den Fluss von radioaktivem Wasser ins Meer und das weitere Eindringen von Grundwasser in die Reaktoren zu verhindern, begann Tepco im April 2012, über ein Jahr nach der Katastrophe, mit dem Bau einer 780 Meter langen und 30 Meter tiefen Stahlwand. Das dahinter aufgestaute kontaminierte Wasser wird abgepumpt, gefiltert und dann abgeleitet. 2013 ordnete der Betreiber zudem den Bau einer „Ice Wall“ an: ein System, das den Boden gefriert und so eine Barriere zwischen sauberem Grundwasser und kontaminiertem Wasser aus den Untergeschossen der Anlage formt. Die Ice Wall umschließt auf einer Länge von 1,5 Kilometern die Reaktoren eins bis vier.

Tausende Tonnen Wasser werden auf diese Weise jedes Jahr gefiltert, um sie zu dekontaminieren, und anschließend in speziellen Tanks auf dem Gelände gelagert. Über 1000 Tanks mit insgesamt mehr als einer Million Tonnen dieses Wassers lagern mittlerweile auf dem Fukushima-Gelände. Nach Angaben von Tepco gibt es 2022 keine Kapazitäten auf dem Gelände mehr, um weitere Tanks aufzustellen. Nach einer Studie der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) könnte das Wasser entweder kontrolliert verdampft oder ins Meer geleitet werden. Denn das Filtersystem entzieht dem Wasser Cäsium und Strontium. Einzig das Isotop Tritium bleibt im Wasser, und Tritium kann auch im Meerwasser nachgewiesen werden. Die IEAE wies in ihrer Studie darauf hin, dass beide Methoden von Atomkraftwerken weltweit genutzt werden – allerdings noch nie in einem solchen Ausmaß. Deshalb ist ein Streit darum entbrannt. Die Fischer aus der Umgebung von Fukushima fürchten um ihr Geschäft. Die Regierung muss bald eine Entscheidung fällen. Doch dass sie ihren Beschluss in naher Zukunft öffentlich macht, gilt kurz vor den geplanten Olympischen Spiele als unwahrscheinlich.

Für 2021 hat sich Tepco einige Ziele gesetzt, darunter die Entfernung aller Brennstäbe aus Reaktor drei. Sind die Arbeiten im Zeitplan?
Barrett: In Reaktor drei gibt es insgesamt 566 Brennstäbe. Bis Ende Februar sind davon 553 entfernt worden, 13 müssen noch geborgen werden. Es sieht also gut aus. 2014 waren die Teams bei den Brennstäben aus Reaktor vier sogar vor dem Zeitplan. Das waren 1533 Stäbe, die einer nach dem anderen vorsichtig geborgen und in dafür vorgesehene Behälter gebettet wurden.

Gibt es auch Verzögerungen?
Barrett: Für den Sommer oder Herbst 2021 war vorgesehen, erste Teile des Brennstoffs aus Reaktor zwei zu bergen. Das soll mithilfe eines riesigen ferngesteuerten Arms geschehen, der in Großbritannien entwickelt wird. Wegen des Lockdowns im Zuge der Pandemie konnten die Briten ihre Tests nicht im vorgesehenen Zeitraum durchführen. Hier können die Arbeiten also vermutlich später beginnen als ursprünglich geplant.

Weil die Reaktorgebäude durch die Explosionen unterschiedlich starke Schäden davongetragen haben, gestalten sich die Bergungsarbeiten bei jeder Einheit unterschiedlich. Die Abklingbecken, in denen die verbrauchten Brennelemente gekühlt und gelagert werden, sollen laut Plan in Reaktor zwei 2024 geleert sein, in Reaktor eins noch einmal drei Jahre später.

Die größte Herausforderung sind jedoch die Kerne. Sie sind verschmolzen mit Trümmern und Strukturen des Gebäudes: Stahl, Beton, Dämmmaterial, Kabel, Drähte. Ein hoch radioaktives und toxisches Gemisch, für das die Experten einen eigenen Namen haben: Corium. Dessen Strahlung ist so hoch, dass die Bergung nur durch Roboter erfolgen kann. Doch die treffen bei ihren Arbeiten immer wieder auf Probleme. Trümmerteile versperrten ihnen den Weg, sie verkeilten sich in Schutt oder ihre Elektronik wurde von der radioaktiven Strahlung gestört.

Wie muss man sich die Arbeit mit diesen Robotern vorstellen?
Barrett: Es wurden unterschiedliche Techniken in verschiedenen Bereichen eingesetzt: Kameras in Mini-U-Booten, die durch das Wasser steuern und Aufnahmen vom Inneren machen. Kameras an langen Stäben, die man durch enge Öffnungen manövrieren konnte. Ein Roboterarm, um ferngesteuert radioaktiven Müll zu bewegen. Roboter, die sich wie Insekten krabbelnd über den Boden bewegen konnten …

Und dann gab es den Roboter namens Sunfish, der für einen Durchbruch sorgte.
Barrett: All diese Roboter haben wichtige Aufgaben erfüllt und erfüllen sie auch immer noch. Sunfish war ein Meilenstein in Reaktor drei, weil wir uns am Beginn einer neuen Phase befinden. Um mit der Bergung des geschmolzenen Brennstoffs und des Coriums zu beginnen, müssen wir uns ein Bild von der jeweiligen Lage in den Reaktoren schaffen: Wie viel vom Kern ist geschmolzen, ist er nur mit dem Beton am Reaktorboden verschmolzen oder auch mit Seitenwänden, womit hat er sich vermischt? In Reaktor drei hatten wir aufgrund der Schäden nach der Explosion lange Schwierigkeiten, ins Innerste vorzudringen. Sunfish hat es 2017 geschafft und die ersten Bilder vom Schaden geliefert. Der nächste, schwerste Teil wird dann sein, das Corium tatsächlich zu entfernen. Aber davon sind wir noch viele Jahre entfernt.

Tepco schätzt, dass die Arbeiten in Fukushima insgesamt 30 bis 40 Jahre dauern. Halten Sie diese Schätzung für optimistisch?
Barrett: Ich glaube, dass es noch Jahrzehnte dauern wird. In 40 Jahren kann Fukushima stabil sein. Aber die Frage ist ja auch: Wie sauber ist sauber genug? Die radioaktiven Brennstoffe werden in 40 Jahren wohl entfernt sein. Aber wird jedes Atom weg sein? Nein.

(für EnergieWinde)