Hannover hatte das Strafrecht nach französischem Vorbild zwar liberalisiert und Homosexualität an sich nicht unter Strafe gestellt. Wurde sie aber als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung wahrgenommen, konnte sie dennoch verfolgt werden. Wegen dieser Gefahr beendete Ulrichs seine Justizkarriere.
Er schrieb als Journalist für die »Allgemeine Zeitung« und beschäftigte sich mit seiner Sexualität. Wissenschaftliche Erkenntnisse waren rar: Die Sexualwissenschaft entstand erst zur Jahrhundertwende. Männliche Homosexuelle wurden als »Päderasten« bezeichnet. Mediziner glaubten, man könne sie an Krankheiten wie »Abzehrung, Schwindsucht oder Wassersucht« erkennen. Der Berliner Arzt Johann Ludwig Casper formulierte als einer der ersten die These, dass Homosexualität angeboren sei und es sich um eine »geistige Zwitterbildung« handle.
Ermutigt von solchen Befunden offenbarte Ulrichs seiner Familie 1862 brieflich seine Homosexualität. Seine Schwester Luise drängte ihn, mit Gottes Hilfe an sich zu arbeiten. Ulrich erwiderte, sein Verlangen nach Männern könne nur sündig sein, wäre es pervers oder unnatürlich – beides bezweifelte er. Auch wenn seine Familie ihn nicht vollkommen verstand: Sie verstieß ihn nicht.
1864 veröffentlichte Ulrichs den ersten von zwölf Bänden der »Forschungen über die Räthsel der mannmännlichen Liebe«. Darin analysierte er die eigene Sexualität, zitierte aus wissenschaftlichen Arbeiten und entwickelte eine neue, vorurteilsfreie Terminologie für Homosexuelle: Als »Uranismus« bezeichnete er die gleichgeschlechtliche Liebe – nach der Göttin Aphrodite Urania, in Platons »Symposion« Tochter zweier männlicher Götter.
»Urning« nannte Ulrichs den schwulen Mann, »Urninde« die lesbische Frau und »Dioninge« heterosexuelle Menschen. Er vermutete bei Urningen eine weibliche Seele im Körper eines Mannes, die dazu führte, dass sie sich zu Männern hingezogen fühlten. Erst 1869 prägte der österreichisch-ungarische Schriftsteller Karl-Maria Kertbeny den heute gebräuchlichen Begriff der Homosexualität.
Anflüge eines Gemeinschaftsgefühls
Ulrichs Schriften schufen ein erstes Gemeinschaftsgefühl unter schwulen Männern. Aus ganz Deutschland erreichten ihn dankbare Briefe von Lesern, die erkannten, dass sie mit ihrer Sexualität nicht allein waren.
Mit dem Sieg Preußens über Österreich 1866 sollte die Strafverfolgung von Homosexualität auf ganz Deutschland ausgeweitet werden. Als Ulrichs protestierte, wurden seine Schriften beschlagnahmt, zensiert und verboten. Zweimal wurde er festgenommen und saß 1867 drei Monate in Festungshaft in Minden.
Die Stimmen für die Straffreiheit mehrten sich jedoch. Eine »Königlich wissenschaftliche Deputation für Medicinalwesen«, darunter der renommierte Berliner Arzt Rudolf Virchow, lehnte die Bestrafung »widernatürlicher Unzucht« in einem öffentlichen Gutachten im März 1869 ab. Selbst Preußens Justizminister Adolph Leonhardt erwog die Straffreiheit.
Doch dann wurde im Januar 1869 in Berlin der fünfjährige Emil Hanke vergewaltigt und verstümmelt aufgefunden. Unter großem öffentlichem Druck nahm die Berliner Polizei den Maler und Leutnant a.D. Karl Ernst von Zastrow fest, der sich offen zu seiner Homosexualität bekannte. Bei einer Hausdurchsuchung fanden die Beamten Schriften von Ulrichs. Obwohl die Beweise für Zastrows Schuld fragwürdig waren, wurde er zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Abgeschafft erst nach 123 Jahren
Von straffreier Homosexualität war danach keine Rede mehr. Ab 1871 wurde »widernatürliche Unzucht« im ganzen Deutschen Reich mit einer Gefängnisstrafe von einem Tag bis zu fünf Jahren bestraft – ein schwerer Schlag für Ulrichs. Er veröffentlichte noch vier Bände seiner Schriftenreihe, bevor er 1880 ins Exil ging und sich in Italien niederließ. Sein Engagement als homosexueller Aktivist endete, fortan widmete Ulrichs sich Schreibprojekten in Latein und starb 1895 in L’Aquila.
Zwei Jahre später gründete der Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee. Diese erste Organisation zur Vertretung homosexueller Interessen trat für die Streichung von Paragraf 175 ein. Ihre Petitionen fanden 6000 Unterstützer, unter ihnen der SPD-Abgeordnete August Bebel.
Dennoch blieb der diskriminierende »Schwulenparagraf« noch lange im Strafrecht verankert und brachte viel Leid – insgesamt 123 Jahre lang. Die Nazis verschärften ihn und verfolgten damit systematisch Homosexuelle. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs übernahmen beide deutsche Staaten § 175 in ihre Strafgesetzbücher. In der DDR wurde er bereits 1968 faktisch außer Kraft gesetzt und 1989 ganz gestrichen, in der Bundesrepublik 1969 entschärft. Bis dahin wurden rund 50.000 Männer danach verurteilt. Im wiedervereinten Deutschland wurde der »175er« erst 1994 ersatzlos abgeschafft.
Die Grundlage für diesen späten Triumph legte ein anderer juristischer Pionier, der ein Jahrhundert nach Karl Heinrich Ulrichs ähnlich beherzt für die Rechte Homosexueller stritt: Manfred Bruns (1934-2019) – als Bundesanwalt hatte er jahrzehntelang einen Rechtsstaat vertreten, der seine eigene sexuelle Orientierung unter Strafe stellte.
(Spiegel Geschichte)