Als die Haushaltshilfe den Levinsons einige Wochen später erzählte, sie habe Hessy in der Zeitung gesehen, reagierte das Paar ungläubig. Sie besorgten sich eine Ausgabe von »Sonne ins Haus« – und waren geschockt.
»Meine Mutter marschierte zum Studio des Fotografen und stellte ihn zur Rede: ›Sie wussten doch, dass sie ein jüdisches Baby fotografiert haben.‹ Sie erinnerte sich ein Leben lang an seine Antwort: ›Ja, aber ich wollte mir den Spaß erlauben.‹ Meine Mutter fand das überhaupt nicht komisch«, erzählt Levinsons Taft.
Denn dieses Foto brachte die Familie in Gefahr. Jüdische Mitbürger wurden seit 1933 Schritt für Schritt entrechtet, die Nazis entzogen ihnen die wirtschaftliche Grundlage. Die Rassenideologie nahm immer offenere Formen an. Nur acht Monate nach der Veröffentlichung von Hessys Babyfoto wurden die Nürnberger Rassegesetze erlassen, ein Grundstein für die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung.
Postkarten sogar in Litauen
Den Levinsons war klar: Wenn herauskam, dass das »perfekte arische Kind« in Wahrheit ein jüdisches Baby war, würde das Propagandaministerium die Blamage nicht auf sich sitzen lassen. »Ich kam quasi in Quarantäne«, erzählt Hessy Levinsons Taft. Die Eltern hatten Angst, mit ihrem Kind in Berlin auf der Straße erkannt zu werden. Hessy wurde nur im verhangenen Kinderwagen ausgefahren.
Unterdessen wurde das Foto bis in jeden Winkel des Deutschen Reichs verbreitet. »Meine Tante in Litauen wollte eine Geburtstagskarte für mich kaufen und fand mein Foto auf einer Postkarte«, die sie in einem Umschlag nach Berlin schickte.
Besorgt beobachteten die Levinsons die wachsende Gefahr in Nazideutschland. 1937 wurde Jacob Levinsons verhaftet und nur freigelassen, weil sein Buchhalter für ihn bürgte. »Da wussten wir, dass es in Deutschland nicht mehr sicher war«, sagt Levinsons Taft.
Nur wenige Monate zuvor, im Dezember 1936, war Hessys jüngere Schwester Noemi geboren worden. Die vierköpfige Familie zog zunächst zu Verwandten in Lettland, 1938 dann nach Paris. Doch auch dort waren sie nicht sicher. Zu Besuch bei Freunden bekamen sie eines Tages einen Anruf vom Concierge ihres Wohnhauses: Die Polizei hatte nach der Familie gefragt. Während Pauline Levinsons mit ihren Töchtern nach Bordeaux floh, rettete Jacob Levinsons hastig die Familienerbstücke aus der Wohnung, darunter das geliebte Klavier. Den Hausstand schickte er nach Bordeaux.
Die rettenden Visa waren wertlos
Von dort floh die Familie 1941 nach Nizza. Fluchthelfer führten sie nachts durch den Wald. »Ich werde nie vergessen, wie einer der Männer ein großes Messer herausholte und zu uns Kindern sagte: ›Wenn einer seinen Mund aufmacht, schneide ich ihm die Zunge raus!‹«, erzählt Levinsons Taft. Die Siebenjährige biss sich auf die Lippen und sagte keinen Ton. Ihre fünfjährige Schwester fütterten die Eltern mit Schokolade.
In Nizza erwartete die Familie ein Umschlag mit vier Visa, die Jacob Levinsons beauftragt hatte. Dann der Schock: Die Einreise musste binnen 90 Tagen erfolgen. Als die Levinsons in Nizza eintrafen, waren bereits 45 Tage verstrichen. Die Weiterreise nach Portugal und die Atlantiküberfahrt mit dem Schiff hätten zu lange gedauert, um die Frist einzuhalten. Jacob Levinsons musste von vorn anfangen, klapperte alle südamerikanischen Botschaften ab und wurde überall abgewiesen. In seiner Verzweiflung bestach er schließlich Beamte in der kubanischen Botschaft.
Drei Wochen dauerte 1942 die Überfahrt von Lissabon nach Havanna, es war eng: »Überall lagen Matratzen, das Schiff war vollgepackt mit Flüchtlingen«, sagt Levinsons Taft. In Havanna gelang es ihrem Vater nach zahlreichen Versuchen, einen Kredit zu bekommen und ein neues Geschäft aufzubauen. Hessy und ihre Schwester Noemi besuchten eine britische Schule in Havanna. »Wir lebten ein sehr gutes Leben dort, und ich liebte die Kubaner«, erzählt Levinsons Taft.
Sechs Jahre später bekam die Familie doch noch Visa für die USA und landete 1948 in New York. »Mein Vater wurde überzeugter Amerikaner. Ich mochte es anfangs gar nicht in den USA und wollte zurück nach Kuba. Die Kultur der amerikanischen Jugendlichen war so anders als die kubanische Schule und meine europäischen Wurzeln.«
Sie studierte Chemie und traf ihren Mann Earl Taft. Die beiden bekamen zwei Kinder, Levinsons Taft arbeitete als Chemikerin und unterrichtete, engagierte sich in Umweltfragen und Wasseranalysen in Israel, wurde schließlich Chemieprofessorin an der St. John’s University in New York City. Noch heute ist sie aktiv in der American Chemical Society.
»Ich habe wieder Angst«
Obwohl die traumatische Erfahrung der Flucht und die Geschichte um ihr Babyfoto Zeit ihres Lebens präsent waren, schwieg sie lange über die Geschehnisse. 1978 wurde sie von einer Freundin überzeugt, ein Kapitel für ein Buch über Holocaustüberlebende aus Lettland zu schreiben. »Wir haben in der Familie nicht sehr viel darüber gesprochen. Mein Vater wollte die Geschichte um das Foto und alles, was folgte, lieber vergessen. Meine Mutter war diejenige, die eher bereit war, über das Trauma der Flucht zu sprechen«, sagt Levinsons Taft. Die Mutter ermunterte sie auch zum Buchkapitel.
Drei Ausgaben von »Sonne ins Haus« hatte ihre Mutter 1938 bei der Flucht aus Deutschland mitgenommen. In den Neunzigerjahren spendete Hessy Levinsons Taft eine der Ausgaben dem US Holocaust Museum in Washington, D.C. 2014 übergab sie eine weitere an die Gedenkstätte Yad Vashem und sprach erstmals öffentlich über ihr Erlebnis. »Ich fand, dass die Titelseite und die Geschichte dort hingehören«, sagt die 86-Jährige.
Nach dem Holocaust und der Flucht ihrer Familie ist Levinsons Taft überzeugte Zionistin: »Wir brauchen ein eigenes Land, in dem wir sicher sind.« Sie ist Amerika und Deutschland dankbar dafür, dass sie Israel unterstützen. Aufmerksam hat sie nach dem Krieg beobachtet, wie sich Deutschland mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hat. »Deutschland ist sehr gut damit umgegangen und hat sich seiner Verantwortung gestellt, besser als andere Länder.«
Doch jetzt verfolgt sie die Nachrichten mit Sorge. Am Morgen hat sie einen Artikel der »New York Times« über rechtsradikales Denken unter deutschen Polizisten gelesen. »Ich habe wieder Angst«, sagt Hessy Levinsons Taft. »Ich hoffe, dass Deutschland es schafft, diese Gruppen und ihre Ideen wieder zu zerschlagen.«
(einestages, Spiegel)