Millionenstadt unter Wasser

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Houston (Flickr)

Alle Flüsse sind über die Ufer getreten, alle Highways sind überschwemmt: In Houston herrscht wegen Hurrikan „Harvey“ Ausnahmezustand. Hätten Teile der Metropole vorher evakuiert werden müssen?

Die Sandsäcke vor der Tür haben nichts genützt. Das Wasser steht in vielen Straßen Houstons meterhoch und dringt durch jede Ritze in Läden und Häuser ein. Tausende sind in ihren Häusern gefangen und wählen verzweifelt den Notruf. Seit Samstagnacht sind in Houston und Harris County im Süden von Texas mehr als 60 Zentimeter Regen gefallen, alle Flüsse der Stadt sind über die Ufer getreten. Alle Highways in Houston stehen unter Wasser. Hunderttausende können die Stadt nicht verlassen.

Vergleiche werden bemüht zu „Allison“, einem Sturm der 2001 über Texas hinwegzog, mehrere Menschenleben forderte und Schäden in Milliardenhöhe anrichtete. „Harvey“ sei eine ganz andere Liga, sagen nun Wetterexperten, die Rede ist von einer Katastrophe historischen Ausmaßes.

56.000 Notrufe sind in Houston seit Samstagnacht eingegangen, an normalen Tagen sind es etwa 8000. Die Behörden sind rund um die Uhr mit Booten im Einsatz, um Menschen aus ihren Häusern zu retten. Die Küstenwache holt mit Helikoptern Anwohner von den Dächern. Die Nationalgarde hat Einsatzkräfte nach Houston entsandt, um die Behörden vor Ort zu unterstützen.

Im südlich von Houston gelegenen Vorort Dickinson waren am Sonntagmorgen die Bewohner eines Altenheims in den steigenden Fluten gefangen. Die Eigentümer hatten wiederholt den Notruf gewählt, aber keine Antwort erhalten. In seiner Not twitterte der Sohn der Eigentümerin ein Foto aus dem Heim: Die Betroffenen sitzen in Rollstühlen, das Wasser reicht ihnen bis zum Bauch. Tausende teilten das Foto auf Twitter und machten die lokalen Notrufbehörden so auf den Notfall aufmerksam. 15 Senioren wurden per Hubschrauber aus dem Altenheim gerettet.

„Harvey“ war vergangene Woche innerhalb weniger Tage über dem Golf von Mexiko von einem schwachen Tropensturm zu einem Hurrikan der Kategorie vier angeschwollen – seit 1961 hatte kein Sturm dieser Kategorie den Bundesstaat heimgesucht. Am späten Freitagabend traf „Harvey“ auf Land und verwüstete unter anderem die kleine Stadt Rockport südwestlich von Houston.

Der Sturm verlor dann zwar innerhalb weniger Stunden stark an Kraft, sodass Meteorologen ihn am Samstagmorgen auf die Stufe eins herabstuften, bis zum Abend galt er nur noch als Tropensturm. Doch das größte Problem, und das hatten Wetterexperten so auch prognostiziert, folgte erst noch. Denn „Harvey“ bewegt sich langsam über Land und entlädt dabei Unmengen an Regen.

Die starken Niederschläge haben schon jetzt alle Rekordzahlen überboten. Der Wasserdruck ist so stark, dass Ingenieure in der Nacht kontrolliert das Wasser aus zwei großen Reservoirs abließen, um die Dämme vor dem Bersten zu schützen.

Hätten die Behörden Houston im Vorfeld evakuieren müssen? Der texanische Gouverneur Greg Abbott (Republikaner) hatte den Einwohnern Ende vergangener Woche zu einer Evakuierung geraten, doch die Behörden in Houston und Harris County hatten ihm widersprochen: „Die lokalen Behörden wissen am besten, was richtig ist“, twitterte Francisco Sanchez, der Sprecher des Notfallmanagements von Harris County.

Weiterer Regen erwartet

Jetzt müssen Sanchez und Houstons Bürgermeister Sylvester Turner sich unangenehme Fragen gefallen lassen. Turner rechtfertigte seine Entscheidung auf einer Pressekonferenz unter anderem damit, dass der Weg von „Harvey“ nicht genau genug vorhergesagt werden konnte. „Es ist schwer, Leute aus dem Gefahrengebiet zu bekommen, wenn man nicht weiß, wo genau die Gefahr ist“, so Turner. Meteorologen hatten verschiedene Modelle errechnet, denen zufolge sich „Harvey“ gen Westen, Osten oder zurück aufs Meer bewegen sollte.

Auch der logistische Aufwand einer Evakuierung sei nicht zu unterschätzen, sagte Turner. In Houston, der viertgrößten Stadt der USA, und im Harris County leben 6,5 Millionen Menschen. Turner verwies auf das Evakuierungsdesaster im Fall von Hurrikan „Rita“: 2005 waren Hunderttausende in ihren Autos auf verstopften Highways gestrandet, die Tankstellen entlang der Evakuierungsroute hatten kein Benzin mehr. Rund hundert Menschen sollen während der Evakuierung gestorben sein. Man habe daraus eine Lektion gelernt, sagte Turner.

„Man kann nicht 6,5 Millionen Menschen auf die Straße schicken“, so der Bürgermeister. Die jetzige Situation sei zwar schlimm, aber mit einer Evakuierungsanordnung hätte man einen „Albtraum“ geschaffen.

Die Rettungseinsätze werden noch Tage andauern, denn „Harvey“ ist noch immer nicht fertig mit Texas: Nach aktuellen Vorhersagen stehen Houston zwei weitere Regentage bevor. Der Sturm soll sich im Laufe des Dienstags zurück auf den Golf von Mexiko begeben und am Mittwoch in der Gegend um die Insel Galveston wieder auf Land treffen und über Houston ziehen.

(Spiegel Online)