Das olympische Startrecht haben Pionierinnen hart erkämpft – ihr Sport galt als unschicklich und ungesund. Aus Protest organisierte eine Französin vor genau 100 Jahren die ersten Olympischen Spiele nur für Frauen.
Einen ungewöhnlichen Anblick bestaunte die feine Gesellschaft am 24. März 1921 in Monte Carlo: Statt in wadenlangen Kleidern und mit Hut in der Frühlingssonne an der französischen Riviera zu flanieren, saßen Frauen in T-Shirts und kurzen Hosen auf dem Rasen im Garten des Spielcasinos. Mehr noch: Sie sprinteten um die Wette, sprangen über Hürden, betrieben Speerwurf und sogar Kugelstoßen.
Rund 100 Athletinnen aus fünf Ländern hatten sich zu den »Jeux Olympiques Féminins« eingefunden, den ersten Olympischen Spielen für Frauen. Bis zum 31. März traten die Sportlerinnen aus Frankreich, Großbritannien, Italien, Norwegen und Schweden in zehn Leichtathletik-Disziplinen an. Zusätzlich zeigten sie ihr Talent im Basketball, in Gymnastik und rhythmischer Gymnastik sowie im Pushball: einem Spiel, bei dem zwei Teams eine menschengroße Kugel ins gegnerische Feld manövrieren mussten.
Die Wettkämpfe waren ein solcher Erfolg, dass sie 1922 gleich erneut ausgetragen wurden. Bis 1934 liefen insgesamt sieben internationale Sportwettbewerbe für Frauen, zunächst als »Olympia für Frauen«, später als »Frauen-Weltspiele«. Der Kopf hinter den Wettbewerben: die Französin Alice Milliat.
Schwitzen bitte nur privat
»Durch die unerschrockenen Anstrengungen dieser Frau und ihrer Gefährtinnen waren Olympia-Offizielle gezwungen anzuerkennen, dass Frauen im internationalen Sport genauso gegeneinander antreten und ihre Länder vertreten wollten wie die Männer bei den Olympischen Spielen«, schreiben Mary H. Leigh und Thérèse Bonin in einem Forschungsbeitrag zur Rolle der Frauensport-Pionierinnen um Milliat.
Das Internationale Olympische Komitee (IOC) legte zunächst wenig Wert auf Frauensport. Die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit 1896 in Athen waren, wie schon in der Antike, reine Männersache. Vier Jahre später durften Frauen im Golf und Tennis starten, 1904 im Bogenschießen, 1908 im Eiskunstlauf. Und 1912 feierten sie ihr Debüt im Schwimmen.
Von der Leichtathletik aber blieben sie ausgeschlossen. IOC-Präsident Pierre de Coubertin soll in England schon vom Anblick schwitzender Rodlerinnen entsetzt gewesen sein. Frauen sollten nur aus gesundheitlichen Gründen Sport treiben, und das möglichst im Privaten. »Coubertins Einstellung entsprach dem Sittenbild der damaligen Zeit, in seinen Überzeugungen stimmte er mit den meisten IOC-Mitgliedern überein«, erklärt Ansgar Molzberger, der am Institut für Sportgeschichte der Kölner Sporthochschule forscht.
Tennis in bodenlangen Kleidern
Die Mitglieder des IOC gehörten der Oberschicht an – und dort fand Frauensport nur in Golf- und Tennisklubs statt: Sportlerinnen traten in bodenlangen Kleidern und anfangs mit Hut auf dem Tenniscourt an. »So kann man ein Spiel nicht athletisch ausüben. In diesem Fall hat das gesellschaftliche Sittenbild mit seinen Kleidungsvorschriften die Entwicklung der Frauen in der Sportart gebremst«, sagt Molzberger. Mediziner hatten Frauensport für gefährlich erklärt. Noch 1931 argumentierte der Leipziger Gynäkologe Hugo Sellheim: »Durch zu viel Sport nach männlichem Muster [wird] der Frauenkörper direkt vermännlicht, die weiblichen Unterleibsorgane verwelken.«
Die Sportpionierinnen ließen sich nicht aufhalten. Während in Deutschland mit seiner Turntradition Anfang des 20. Jahrhunderts noch Skepsis überwog, entwickelte sich in Frankreich eine Sportszene für Frauen. Der Pariser Klub »Fémina Sport« machte ab 1912 Frauenfußball bekannt, sogar mit einer ersten Meisterschaft. Klubmitglieder konnten auch Leichtathletik, Basketball, Feldhockey, Rudern oder Radfahren ausüben. Nachdem Alice Milliat im Klub eingangs ruderte, wurde sie 1915 Präsidentin.
»Fémina Sport« gründete mit dem Pariser Sportklub »En Avant« die Dachorganisation für französischen Frauensport FSFSF und richtete Wettbewerbe aus. Milliat war bei der FSFSF erst Schatzmeisterin, ab 1919 dann Präsidentin und wandte sich mit der Bitte an das IOC, Frauen in der Leichtathletik bei Olympia 1924 zuzulassen. Die Antwort: Nein.
Die Französinnen entschieden deshalb, selbst einen internationalen Wettkampf auszurichten. Camille Blanc unterstützte sie: Der Sohn des Spielbank-Gründers François Blanc und Präsident des Internationalen Sportklubs von Monaco stellte ihnen den Casino-Garten zur Verfügung.
Engländerinnen und Französinnen dominierten die ersten Olympischen Spiele der Frauen. Violette Morris holte Gold im Speerwurf und im Kugelstoßen. Die Französin probierte sich auch sonst in jedem Sport aus – Schwimmen, Boxen, Wrestling, Autorennen. Ihr Motto: »Alles, was ein Mann kann, kann auch Violette.« Die Britin Mary Lines gewann 1921 Gold im 60-Meter-Lauf und im 250-Meter-Lauf, ein Jahr später holte sie einen Weltrekord beim Staffellauf.
Milliats Bemühungen gaben dem Frauensport eine Bühne, als sich das Bild der Frauen in der Gesellschaft gerade wandelte: Im Ersten Weltkrieg hatten sie die Arbeit von Männern übernommen; nach dem Krieg erkämpften sie sich in England, Deutschland und den USA das Wahlrecht.
Die Frauen-Spiele schreckten die Bewahrer des Männersports auf. Das IOC, so Molzberger, »ärgerte sich, dass durch die Verwendung des Titels ›olympisch‹ an seinem Monopol gekratzt wurde« – und dass die Veranstaltung jährlich statt im olympischen Turnus von vier Jahren laufen sollte.
Daher hieß sie 1922 »Frauen-Weltspiele«, ausgerichtet von der Internationalen Frauen-Sport-Föderation (FSFI) in Paris mit rund 20.000 Zuschauern. Die Wettkämpfe vier Jahre später in Göteborg eröffnete Schwedens König Gustav V. Als einzige japanische Athletin trat Kinue Hitomi in sechs von zwölf Disziplinen an, inklusive Weltrekord im Weitsprung, und sicherte Japan im Alleingang Platz fünf unter neun teilnehmenden Ländern.
Weil Frauensport an Popularität gewann, ließ das IOC Frauen bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam versuchsweise in fünf Leichtathletik-Disziplinen zu: über 100 und 800 Meter, in der 4×100-Meter-Staffel, in Hochsprung und Diskuswerfen. Beim 800-Meter-Lauf fiel eine Athletin im Ziel, als sie eine Konkurrentin einzuholen versuchte.
Ein New Yorker Klatschblatt behauptete, mehrere Sportlerinnen seien in Ohnmacht gefallen. Die »New York Times« schrieb: »Das Finale des 800-Meter-Laufs der Frauen, in dem Frau Lina Radke aus Deutschland einen Weltrekord aufstellte, demonstrierte deutlich, dass sogar diese Distanz der weiblichen Stärke zu viel abverlangt.« Prompt strich man den 800-Meter-Lauf für Frauen wieder – und das sogar bis 1960.
Nach der Enttäuschung von Amsterdam organisierte die FSFI 1930 Frauen-Weltspiele in Prag, 1934 in London. Als 1936 die Föderation bereits 30 Mitgliedsländer hatte, zog das IOC die Kontrolle über die Frauenwettkämpfe der Leichtathletik an sich. Bei den Spielen in Berlin 1936 traten Frauen in sechs Disziplinen an, bevor der Zweite Weltkrieg eine Pause erzwang. Erst 1948 fanden erneut Olympische Spiele statt; Frauen waren erstmals im 200-Meter-Lauf, im Kugelstoßen und im Weitsprung zugelassen.
Total dehydriert ins Ziel
In der Geschichte der Olympischen Spiele »mussten sich Frauen ihr Startrecht über einen langen Zeitraum Sportart für Sportart erkämpfen«, sagt Molzberger. Fußball und Boxen wurden auf olympischer Ebene erst 1996 und 2012 für Frauen geöffnet, Skispringen erst 2014.
Noch jahrzehntelang hielt sich bei Sportfunktionären die Auffassung, Frauen seien zu körperlichen Höchstleistungen gar nicht imstande. Ihnen könne etwa »beim Laufen die Gebärmutter herausfallen« – von solchen Mythen erzählte etwa Kathrine Switzer. Die amerikanische Läuferin schrieb Sportgeschichte, weil sie 1967 als erste Frau den Boston-Marathon mit offizieller Startnummer absolvierte. Als der zornige Rennchef versuchte, sie von der Strecke zu rempeln, wurde er selbst weggerempelt: von Switzers Freund, einem Hammerwerfer.
Olympisch wurde der Marathon für Frauen erst 1984. Mit einem Zwischenfall, der großes Aufsehen erregte: Die Schweizerin Gabriela Andersen-Schiess hatte die letzte Wasserstation vor dem Ziel verpasst und lief schwer dehydriert ins Stadion in Los Angeles ein. Mental war die Schweizerin fit, allein ihre Muskeln gehorchten ihr nicht: Den Körper zur Seite geneigt, schlingerte die Läuferin von einer Seite der Bahn zur anderen. Als ein Arzt ihr zu Hilfe eilen wollte, scheuchte sie ihn fort: Hätte er sie berührt oder gestützt, wäre sie disqualifiziert worden.
Erst nachdem sie die Ziellinie überquert hatte, fiel sie dem medizinischen Personal erschöpft in die Arme, wurde mit nassen Handtüchern gekühlt. »Ich erinnere mich genau an den Jubel und den Lärm. Es war unglaublich, so laut. Ich hatte das nicht erwartet«, sagt Andersen-Schiess später. Das Publikum beklatschte den unbändigen Willen der Frau mit stehenden Ovationen.
(Der Spiegel)