Elektro statt Easy Rider

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(Flickr)

Hersteller großer, schwerer Motorräder haben Probleme: Ihre Kunden altern, neue Käufer wachsen nicht nach. Gute Strategien zu finden ist für viele schwierig.

Für einen kurzen Moment wird es ruhig, dann bricht der Lärm los. Über die Lautsprecher tönt Rockmusik, eine Bandansage setzt ein: „Ladies und Gentlemen, begrüßen Sie mit uns das neueste Mitglied der Harley-Davidson-Familie!“ Mitarbeiter versammeln sich um einen Endfünfziger mit Baseballkappe und ausgewaschenen Levis-Jeans, das weinrote Shirt spannt über dem Bauch. Manche drücken auf die Hupen der umstehenden Motorräder, andere klatschen. Ein Countdown beginnt: „drei, zwei, eins!“ Der Endfünfziger schwingt einen Klöppel gegen einen wagenradgroßen Gong. Die Gruppe klatscht, der Mann strahlt: Er ist stolzer Besitzer einer neuen Harley-Davidson.

„Das passiert hier vier bis fünf Mal am Tag“, sagt Doug Roessing. Er ist General Manager des weltweit größten Harley-Davidson-Stores in Scottsdale, Arizona. Auf einer Fläche von drei Fußballfeldern blitzt der Chrom von mehreren Hundert Maschinen neben Motorradkleidung und Harley-Fanartikel für Männer, Frauen und Kinder. In der „Rumble Zone“ saugt eine große Ablufthaube  Die Abgase der Maschinen aus dem Laden, wenn Kunden auf der Suche nach dem Abgasrohr mit dem perfekten Sound am  Gaszug drehen. Wenige Schritte weiter verbauen Mechaniker die ausgestellten Ersatzteile oder warten die Maschinen. Durch eine Glaswand können Kunden  ihnen bei der Arbeit zusehen. Oder sie vertreiben sich die Wartezeit im hauseigenen Kino, beim Friseur oder im Tattoostudio. Sogar Hochzeiten richtet Harley-Davidson Scottsdale aus.

Der Store ist ein Aushängeschild für Harley-Davidson. Mit außergewöhnlichen Erlebnissen beim Händler will der Motorradhersteller Interessierte in loyale Kunden verwandeln.

Die amerikanische Traditionsmarke ist nicht die einzige, die ihre Geschäftsstrategie nachjustiert. BMW Motorrad, Honda, Ducati, Yamaha — weltweit sehen sich Hersteller mit neuen Herausforderungen konfrontiert. In westlichen Märkten altert die Kundenbasis, Nischenmärkte nehmen Fahrt auf, in Asien sind Mopeds und Scooter gefragt, und der Trend zu Elektromotoren macht auch vor Zweirädern nicht Halt. „Es bleibt nur wenig Zeit, bevor neue Technologien, nachlassende Verkäufe und  schwaches Marketing dafür sorgen, dass Motorradfahren zu einem abseitigen Hobby wird“, warnten amerikanische  Branchenvertreter bereits 2017 in einem Positionspapier.

Biker werden alt. Fünf Jahrzehnte nachdem der Film „Easy Rider“ das Image von grenzenloser Freiheit auf zwei Rädern schuf, wird die Jugend von damals zu alt für ihre schweren Maschinen und verkauft sie. Die vielen Gebrauchten am Markt sind für Harley-Davidson ein großes Problem. Die klassischen Touring-Modelle mit großen Motoren kosten neu zwischen 17 000 und 25 000 Euro, limitierte Editionen sogar 40 000 Euro. „Viele Kunden, die von einer Harley träumen, können sie sich neu einfach nicht leisten. Aber es gibt unzählige gebrauchte Bikes, die sie günstig kaufen können“, sagt Gleb Mytko, der für das Marktforschungsinstitut Freedonia den weltweiten Motorradmarkt beobachtet.

Kopfschmerzen bereitet den Herstellern auch, dass die ab 1980 Geborenen wenig Interesse an fahrbaren Statussymbolen haben. Robin Farley, Analystin bei der Schweizer Großbank UBS, beschrieb den Generationenkonflikt: Laut einer aktuellen Umfrage kauften ältere Biker Motorräder als Hobby und weil sie cool seien. 21- bis 34-Jährige sehen sie als Transportmittel. Laut der amerikanischen Handelskommission USITC wurden 2017 in den USA 12 000 Motorräder weniger angemeldet als 2013. Vor allem schwere Maschinen sind weniger gefragt. Hinzu kommt, dass die Jungen weniger Geld haben als ihre Eltern. „Während frühere Generationen das Gefühl hatten, sie ,brauchten‘ ein Motorrad in ihrem Leben, müssen Kunden im heutigen Markt das Produkt wollen, um den Kauf rechtfertigen zu können — ganz so, wie Unterhaltungselektronik verkauft wird. Diesen Willen aufzubauen ist unsere größte Herausforderung“, schreiben die US-Branchenvertreter.

Mit Elektromodellen wollen BMW Motorrad und Harley umweltbewusste Kunden ansprechen. Ende Juni 2019 präsentierte BMW das elektrische Konzept-Bike Vision DC Roadster. Anstelle des charakteristischen Boxermotors platzierten die Ingenieure einen Elektromotor, dessen Batterien für eine Reichweite von etwa 150 Kilometern sorgen. Darum herum kreierten die Designer ein aggressiv und dynamisch aussehendes Bike. „Es ist das gleiche Konzept, aus dem Tesla Kapital schlägt: Es geht nicht um die höchste Performance, sondern um den Coolness-Faktor und darum, Aufmerksamkeit zu erregen“, sagt Mytko. Stark, schnell, teuer: Konkurrent Harley-Davidson rollt nach siebenjähriger Entwicklung 2019 die LiveWire aus, deren Elektromotor das Harley-Röhren durch ein hochtöniges Zischen ersetzt. Die Reichweite liegt bei 225 Kilometern. Der Preis für die Elektro-Harley: gut 26 000 Euro. Nachfragen, wie viele Vorbestellungen eingegangenen sind, lässt der Motorradbauer unbeantwortet.

Immerhin haben es Hersteller, die an einen Autokonzern gebunden oder Teil eines erfolgreichen Unternehmenskonstrukts sind, laut Mytko leichter: „BMW kann es sich leisten, wenn Motorräder einen kleineren Teil der Geschäftseinnahmen ausmachen.  Investoren von Harley-Davidson, für die Motorräder ihr ganzes Geschäft sind, erwarten hingegen, dass der Ertrag ständig wächst.“

Scooter statt Tourer. Die größten Wachstumspotenziale liegen derweil in Asien. Das Marktforschungsunternehmen Pew Research ermittelte 2015, dass mehr als 80 Prozent der Haushalte in Südostasien ein motorisiertes Zweirad besitzen, in China sind es 60 Prozent. In Europa bewegt sich die Quote zwischen sieben Prozent in Großbritannien und 26 Prozent in Italien; in den USA beträgt sie 14 Prozent. In Asien ist der Scooter König: Im chronisch verstopften Großstadtverkehr und durch enge Gassen garantiert der Motorroller schnelles Fortkommen. Allein in Indonesien stieg die Zahl der verkauften Scooter von 20 Prozent im Jahr 2007 auf 84 Prozent 2017.

Nachdem japanische Hersteller wie Honda, Yamaha, Kawasaki und Suzuki den Markt lange nur mit heimischer Konkurrenz teilen mussten, drängen die Premiumhersteller nach Asien. BMW ist mit Modellen unter 500 Kubikzentimeter Hubraum in Asien erfolgreich.

Die Vespa des italienischen Herstellers Piaggio gilt dank ihres Designs und ihrer Qualität in Asien als Statussymbol. Seit 2007 entwickelt der österreichische Hersteller KTM zusammen mit dem indischen Hersteller Bajaj Einsteiger-Straßenmodelle. Und erst im Juni verkündete Harley-Davidson, mit dem chinesischen Hersteller Qianjiang Ende 2020 ein Modell mit 338 Kubikzentimeter Hubraum auf den Markt zu bringen.

Unterdessen haben überfüllte Straßen, Sicherheitsbedenken und Emissionen Regierungen auf den Plan gerufen. „Ein wichtiger Faktor ist der Versuch, Luftverschmutzung zu beschränken“, beobachtet Mytko. Der Inselstaat Taiwan forciert den Wechsel auf elektrische Modelle. Die Regierung investiert in Scooter-Mietstationen, subventioniert elektrische Motorräder und E-Fahrräder. Um die Reichweite zu verbessern, erprobt der Staat Stationen, an denen Fahrer ihre leere Batterie gegen eine volle tauschen und sofort weiterfahren können.

Die Unternehmensberatung Roland Berger prognostiziert für die geschäftliche Nutzung von Scootern die nächsten Wachstumschancen. Ausgerüstet mit zusätzlicher Gepäckfläche und Ladestationen fürs Handy bieten sie sich als Leihmodelle an. Mit höherer Reichweite dienen sie als Fahrzeuge, um Pakete oder Essen auszuliefern. Die Zukunft der Branche röhrt womöglich nicht. Sie knattert und zischt.

(€uro 02/20)