Serienmörder in Plauderstimmung

(Flickr)

Samuel Little hat mehr als 90 Morde in den USA gestanden. Viele Fälle liegen weit zurück und es gibt keine Beweise – nur das Wort eines Schwerverbrechers. Ermittler erzählen, wie sie den Aussagen nun nachgehen.

Detective Bernie Nelson hatte zweieinhalb Stunden, um einen Mord zu klären, der mehr als 46 Jahre zurücklag. Der Ermittler aus Prince George County, einer Gemeinde östlich von Washington D.C., war an einem Novembermorgen 2018 der erste Besucher, der Samuel Little im Gefängnis in Texas traf. Ermittler von mindestens drei weiteren Behörden warteten an diesem Tag darauf, den verurteilten Mörder zu befragen.

Little hat seit vergangenem Jahr 93 Morde gestanden. Anfang Oktober bezeichnete das FBI ihn als schlimmsten Serienmörder in der Geschichte der USA. 50 Geständnisse konnten laut FBI realen Fällen zugeordnet werden – darunter das Verbrechen, das Detective Nelson untersucht.

Trotzdem bleiben die Ermittlungen schwierig: Viele Fälle liegen Jahrzehnte zurück, oft fehlen Beweise, es gibt nur das Geständnis und die angeblichen Erinnerungen Samuel Littles, die nun mit den Gegebenheiten an zig Tatorten abgeglichen werden müssen. Und es wäre nicht das erste Mal, dass ein Häftling sich mit Morden brüstet, die er in Wahrheit gar nicht begangen hat.

Bernie Nelson befragte Little zu einem Mordfall aus dem Jahr 1972: In einem Waldstück nahe der Kleinstadt Laurel fand ein Jäger Überreste einer Frau. Die Leiche war zu stark verwest, um ihre Identität festzustellen. Der Gerichtsmediziner schätzte die Tote auf etwa 20, zwischen 1,60 und 1,70 Meter groß, Todesursache schien Erwürgen zu sein. Es gab keine Hinweise auf den Täter, keine verwertbaren Spuren. Der Fall wanderte ungelöst ins Archiv – bis Samuel Little zu reden begann.

Geständnis nach mehr als vier Jahrzehnten

Little sagte aus, er habe die Frau am Busbahnhof in Washington D.C. getroffen, wo sie als Prostituierte gearbeitet habe. Nelson zufolge belegt ein Akteneintrag, dass Little 1972 tatsächlich zur fraglichen Zeit am Busbahnhof in der Hauptstadt war – er wurde dort nämlich wegen unerlaubten Waffenbesitzes kurzzeitig festgenommen. Über mehrere Tage sei er mit der Frau ins Gespräch gekommen, erzählte Little. Schließlich sei er mit ihr aus D.C. herausgefahren und habe in einem Waldstück gehalten. Er habe sie gewürgt, doch sie sei wieder zu Bewusstsein gekommen und davongestolpert. Als er sie einholte, habe er erwürgt. „Es erregte ihn, über seine Taten zu sprechen“, sagte Nelson dem SPIEGEL. Er habe Littles freundschaftlichen Ton befremdlich gefunden. „Man muss mit ihm scherzen und lachen, damit er nicht dicht macht.“

Little habe ihm den Weg beschrieben, den er mit seinem Opfer zurücklegte. „Er sprach von einem alten, heruntergekommenen Haus in unmittelbarer Nähe des Leichenfundorts.“ Der Detective hatte Luftaufnahmen der Gegend aus dem Jahr des Mordes dabei. Little lieferte detaillierte Beschreibungen der Umgebung und des Hauses, bevor der Ermittler ihm die Fotos vorlegte.

Der Fall aus Laurel war offenbar einer von Littles ersten Morden. Nach Überzeugung der Ermittler tötete er zwischen 1970 und 2005 in mindestens 15 US-Bundesstaaten. Er wählte Frauen aus, von denen er glaubte, dass sie niemand vermissen würde, Prostituierte oder Drogenabhängige. Er lockte sie an entlegene Orte, erwürgte sie und masturbierte dabei. Landesweit wurde er mehr als ein Dutzend Mal festgenommen, wegen Raubes, tätlichen Angriffs, Vergewaltigung. Stets kam er wieder frei. 1984 stand er für den Mord an einer 26-Jährigen in Florida vor Gericht, wurde jedoch aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

„Erzähl mir, wie die Frau ausgesehen hat“

„Er war so gut in dem was er tat“, sagt Texas Ranger James Holland. Ihm gegenüber hat Little seit Mai 2018 seine Geständnisse abgelegt. Die texanische Behörde lehnte ein Interview mit Holland mit Verweis auf seine andauernde Ermittlungsarbeit ab. Dem CBS-Format „60 Minutes“ erzählte er Anfang Oktober von seiner Arbeit. Die Reporterin fragte ihn, warum Little ausgerechnet ihn ins Vertrauen gezogen habe: „Am Ende…“, Holland wippte ein wenig auf seinem Stuhl, „…mochte Sammy mich vielleicht einfach.“

Samuel Little scheint in Erinnerungen zu schwelgen, wenn er zu seinen Taten befragt wird. Das FBI hat Videos von ihm veröffentlicht, um bisher nicht identifizierte Opfer zu ermitteln. Die Ausschnitte zeigen den 79-Jährigen mit dem fleckigen grauen Bart bei seinen Gesprächen mit Texas Ranger Holland. Er trägt eine graue Wollmütze und blaue Gefängniskleidung. Holland, nicht im Bild, stellt ihm Fragen: „North Little Rock. Erzähl mir wie die Frau ausgesehen hat.“

Little schließt die Augen. „Oh, die habe ich geliebt!“ Er lächelt. „Ich habe ihren Namen vergessen, oh warte…ich glaube es war Ruth! Sie hatte Hasenzähne, nein, eine Zahnlücke, das war es.“ Er lacht und zeigt auf seine Vorderzähne.

Littles Angaben sind nicht immer korrekt, seine Erinnerungen lassen nach

Laut Holland gibt es eindeutige Zeichen und Gesten, wenn Little sich erinnert. „Wenn er über einen Tatort nachdenkt, beginnt er über sein Gesicht zu streichen. Und während er sich an sein Opfer erinnert, blickt er nach oben und in die Ferne“, sagte der Ermittler zu CBS. Es scheine, als habe Little ein Karussell seiner Opfer vor Augen und warte darauf, dass es bei dem Mensch stehen bleibe, über den er reden wolle.

Little habe ein beinahe photographisches Gedächtnis für Details, so Holland. Seit er dem Mörder Papier und Stifte besorgte, zeichnet Little seine Opfer. Holland hat die Zeichnungen in seinem Büro aufgehängt, das FBI veröffentlichte sie in der Hoffnung, dass Angehörige jemanden erkennen.

Doch nicht immer sind Littles Angaben korrekt. „Seine Erinnerung an Daten ist nicht immer genau. Er hat auch manchmal Probleme, die Kleidung eines Opfers genau zu erinnern“, schreibt das FBI auf seiner Webseite. Mögliche Verbindungen sollten daher nicht aufgrund dieser fehlerhaften Faktoren aufgegeben werden.

Laut Texas Ranger Holland vertat sich der 79-jährige Little bei den Daten seiner Morde manchmal um ein ganzes Jahrzehnt. Holland betonte aber auch: „Nichts, was er uns jemals gesagt hat, hat sich hinterher als falsch herausgestellt.“

Der Fall Henry Lee Lucas

Wie problematisch es sein kann, sich allein auf Geständnisse zu verlassen, zeigt der Fall Henry Lee Lucas. Ab 1983 gestand er über einen Zeitraum von 18 Monaten zunächst rund 300 Morde, später belief sich die Zahl sogar auf rund 600. Wie Little zog Lucas von Küste zu Küste, mit Gelegenheitsjobs und ohne festen Wohnsitz. Lucas wollte seine Opfer erstochen, erschossen und stranguliert haben. Im Gegenzug für seine nicht enden wollenden Schuldbekenntnisse genoss er im Gefängnis Sonderbehandlungen wie Kabelfernsehen und besondere Verpflegung. Gegen Ende seines Geständnis-Marathons wollte er Jimmy Hoffa – Gewerkschafter mit Mafiaverbindungen – ebenso umgebracht haben wie er behauptete, Sektenführer Jim Jones das Gift für den Massensuizid in Jonestown geliefert zu haben.

Erst ein Journalist der „Dallas Times Herald“ ermittelte anhand einer akribisch recherchierten Zeitleiste, dass Lucas mehrere der gestandenen Morde nicht begangen haben konnte, weil er sich zum Tatzeitpunkt in einem anderen Bundesstaat befand. Lucas war für einen dieser Fälle zum Tode verurteilt worden. Der damalige Gouverneur George W. Bush begnadigte ihn 1998 wegen des offensichtlich falschen Geständnisses. Lucas verbüßte eine lebenslange Haftstrafe und starb 2001 im Gefängnis. Eine interne Untersuchung war blamabel für die Ermittler: Sie hatten Lucas Fallakten zu lesen gegeben und ihm Fotos gezeigt, anhand derer er seine Geständnisse fabrizierte.

„Ich war das nicht!“ 2014 beteuerte Little noch seine Unschuld

Samuel Little hatte noch 2014 seine Unschuld beteuert. Nachdem er in einem Obdachlosenheim in Kentucky festgenommen worden war, machten die Ermittler ihn aufgrund von DNA-Spuren als Täter in drei ungeklärten Mordfällen aus den Jahren 1987 bis 1989 in Kalifornien aus. Nach seiner Verurteilung rief er: „Ich war das nicht!“.

Weil die Beamten des Los Angeles Police Department ein Muster hinter Littles Morden vermuteten, schalteten sie das FBI ein. Dort begannen tiefergehende Ermittlungen. 2017 tauchte Littles DNA in Verbindung mit einem Mordfall im texanischen Odessa auf. James Holland wurde hinzugezogen und reiste nach Kalifornien, wo Little seine Strafe absaß.

Der Ranger sagt, er habe Little mit einer Aussage geknackt, die dieser wohl als Kompliment sah: Little sei kein Vergewaltiger. Er sei ein Killer. „Das hat ihm gefallen. So definiert er sich“, sagte Holland im Gespräch mit CBS. Little handelte einen Deal aus: Er würde offen über den Mord und weitere Fälle reden, wenn er dafür keine Todesstrafe bekomme. Holland arrangierte mit dem zuständigen Staatsanwalt in Texas einen Deal und verlegte Little in ein texanisches Gefängnis. Dort gehen seitdem Ermittler aus zahlreichen Bundesstaaten ein und aus, um Fälle abzugleichen.

Weil Little im Mordfall von 1972 den Tatort so detailliert beschreiben konnte und sein Aufenthalt in der Region nachgewiesen werden kann, gilt sein Geständnis als glaubhaft. Für Detective Nelson ist der Fall jedoch noch nicht gelöst: „Das Wichtigste ist jetzt, die Identität der Toten herauszufinden.“ Ein Oberschenkelknochen der Unbekannten wurde an ein DNA-Labor geschickt. Das Ergebnis erwartet Nelson in einigen Wochen.