Ein letzter Test, dann sollte die Ölförderung beginnen – es war der Auftakt zur schlimmsten Ölkatastrophe in der Geschichte der USA. Vor zehn Jahren ging die Bohrinsel „Deepwater Horizon“ in Flammen auf.
Das Wasser im Golf von Mexiko war erstaunlich ruhig, als Paul Meinhart in die Tiefe starrte. Hinter ihm loderten die Flammen, vor ihm lag der Sprung ins Wasser aus mehr als 20 Metern.
Es war der 20. April 2010, kurz nach 22 Uhr. Die Ölbohrinsel „Deepwater Horizon“ war nach zwei Explosionen schwer beschädigt, der Bohrturm brannte. Von der Besatzung standen nur noch Meinhart und Kapitän Curt Kuchta auf der rauchverhangenen Plattform. „Ich wollte nicht der Letzte an Bord sein, um ein Held zu sein. Ich wollte nur wirklich nicht springen“, sagte Meinhart in einem Podcast-Interview. Schließlich überwand er sich. „Ich springe und sehe all diese Leute unter mir im Wasser. Und ich hoffe nur, dass ich keinen treffe.“ Er landete eine Armlänge entfernt von einem Kollegen im Meer.
115 Männer und Frauen flohen an diesem Tag von der „Deepwater Horizon“ – in Rettungsbooten und -inseln oder durch den Sprung ins Wasser. Elf Arbeiter starben, ihre Leichen wurden nie gefunden. Die Bohrinsel brannte zwei Tage, bevor sie am 22. April 2010 versank, dabei das Bohrrohr aus dem Meeresboden in 1600 Metern Tiefe riss und die schlimmste Ölkatastrophe in der Geschichte der USA auslöste.
Rund 800 Millionen Liter Öl traten aus und verseuchten den Golf von Mexiko. Auf dem Höhepunkt der Katastrophe bekämpften 47.000 Menschen die Ölpest. Die Umweltfolgen sind bis heute spürbar. Der Fall beschäftigte den US-Kongress und die Gerichte, der Ölkonzern BP musste viele Milliarden Dollar zahlen.
Paul Meinhart, 25, kam zu mehrwöchigen Schichten auf die Plattform, in der Ölindustrie arbeitete er erst seit einem halben Jahr. Er stammt aus einem Vorort von Houston und hatte eine Ausbildung zum Automechaniker gemacht. Doch gut bezahlte Jobs gab es in Texas nach der Rezession 2008 nur in einer Branche: der Ölindustrie.
Der Test dauerte den Managern zu lange
Also begann Meinhart für den Schweizer Konzern Transocean zu arbeiten, spezialisiert auf Tiefseebohrungen. Als Mechaniker war er zuständig für Generatoren, Pumpen und Leitungen, um die Plattform manövrierfähig zu halten. Der 20. April war Tag fünf seines 21-tägigen Einsatzes.
Die „Deepwater Horizon“ zählte 2010 zu Transoceans modernsten Bohrinseln. Lange hatte es weder Unfälle noch schwere Verletzungen an Bord gegeben. Am Unglückstag flogen Transocean-Führungskräfte mit Managern des Ölkonzerns BP, der die Rechte für das Bohrfeld hielt, zur Bohrinsel und gratulierten der Crew zu ihrer guten Sicherheitsstatistik.
Sie wollten auch dem entscheidenden Teil des Einsatzes beiwohnen: Das Bohrloch sollte verschlossen werden, bevor eine Förderinsel endlich Öl aus dem Macondo-Feld pumpen würde. Die Tiefseebohrung hatte sich als problematisch erwiesen. Sie sollte nur 21 Tage dauern, nun waren es bereits 43. Die Crew nannte das Bohrloch wegen der zahlreichen Komplikationen the well from hell – das Höllen-Bohrloch.
Weil die Verzögerung BP bereits 21 Millionen Dollar gekostet hatte, bestanden die Manager auf Beschleunigung des Tests, ob das Bohrloch wirklich dicht sei. Schneller als üblich wurde Meerwasser anstelle von Bohrschlamm ins Bohrloch gepumpt. Nimmt der Druck zu, steigen höchstwahrscheinlich Gas und Öl aus dem Bohrloch nach oben, es ist undicht. Der im ersten Durchlauf tatsächlich erhöhte Druck besorgte die Arbeiter. Ein BP-Manager fand die Anomalie nicht dramatisch. Eine Diskussion entbrannte, nach der Test-Wiederholung einigte man sich gegen 20 Uhr: Das Bohrloch sei sicher.
Es war eine fatale Fehleinschätzung.
Meinhart arbeitete im Maschinenkontrollraum, als eine Durchsage über das Bordsystem ertönte. Die Diensthabenden auf der Brücke funkten an das Versorgungsschiff neben der Bohrinsel: „Fahren Sie mehrere hundert Meter zurück, wir haben ein Problem mit der Ölquelle!“
„Da wurde ich wütend. Auf die Türen“
Noch wussten die Arbeiter im Maschinenkontrollraum nichts vom Blowout wenige Meter über ihnen: Bohrschlamm und Meerwasser schossen meterhoch aus dem Bohrloch und klatschten aufs Deck, wo die Crew versuchte, den Ausbruch unter Kontrolle zu bekommen. Die meisten überlebten es nicht. Auf dem Steuerpult im Kontrollraum warnten Lampen und Alarme vor Gasaustritt auf dem Hauptdeck. Mit dem Schlamm war Methangas aus dem Bohrloch entwichen und legte sich wegen seines Gewichts wie eine hochexplosive Glocke über die Bohrinsel.
Wenige Meter weiter saß Chefelektroniker Mike Williams im Büro, als auch auf seinem Steuerpult die Warnleuchten wild blinkten – sein Monitor explodierte. Unterdessen hörte Paul Meinhart die Dieselgeneratoren immer schneller arbeiten. Dann ging das Licht aus. Sekunden später riss eine Explosion die feuersichere Stahltür neben Meinhart aus der Verankerung und traf seinen Kollegen Brent Mansfield.
Ventilationsrohre verbanden die Generatoren mit dem Hauptdeck, um die Motoren zu kühlen. Als das Methangas heruntersank, saugte die Lüftung es direkt in die Maschinen – ein Funke reichte zur Explosion.
Die Ermittler glauben, dass sich das Feuer danach einen Weg übers Deck bahnte, hin zum Pumpenraum, wo bei Bohrungen das Gas aus dem Schlamm gefiltert wird. Als die Flammen dort auf das Gas trafen, kam es zur zweiten Explosion. Erneut riss sie eine Stahltür aus der Verankerung, die Meinhart zu Boden warf.
Mike Williams wurde in seinem Büro ebenfalls verletzt und kämpfte sich aus den Trümmern. Bei der zweiten Explosion schleuderte ihn eine Stahltür zehn Meter zurück, gegen eine Wand. „Da wurde ich wütend. Auf die Türen. Ich war wütend, weil die Feuertüren, die mich schützen sollten, mich stattdessen verletzten“, erinnerte er sich in einem CBS-Fernsehinterview. Auf allen Vieren schaffte er es in den Maschinenkontrollraum, vorbei an Paul Meinhart.
Kein Notstrom, keine Riesenschere
Meinhart rappelte sich hoch, hörte Brent Mansfield unter Trümmerteilen stöhnen und schleppte ihn gemeinsam mit einem Kollegen nach draußen. „Brent lief das Blut nur so aus seiner Kopfwunde.“ Über eine Treppe wollten die drei zur Brücke fliehen, doch die Stufen waren weggerissen. Ihnen blieb nur der Weg übers schon schlammbedeckte Hauptdeck. Sie befürchteten, dass auf sie der Ölbohrturm stürzen würde, aus dem meterhohe Flammen schossen.
Blutig und verdreckt schafften sie es auf die Brücke. Dort versuchten Kapitän Kuchta und Kollegen, das Notfallsystem der Bohrinsel zu aktivieren. Bei Bohrungen wird der Blowout-Preventer (BOP) direkt über dem Bohrloch platziert. Im Notfall kappt eine riesige Schere das Rohr, damit man die Bohrinsel vom Bohrloch weg navigieren kann.
Dafür brauchte es Strom. Mit Meinhart und einem Vorarbeiter kämpfte sich Williams, den später Mark Wahlberg in der Hollywood-Verfilmung „Deepwater Horizon“ (2016) spielen sollte, durch zu den Notstromgeneratoren auf dem Hauptdeck. Doch sie sprangen nicht an. Auch der BOP reagierte nicht. Später ergab die Untersuchung, dass BP ihn lange nicht gewartet und Sicherheitsmängel ignoriert hatte – leere Batterien, fehlerhafte Ventile, undichte hydraulische Leitungen.
Von der Brücke sendete Hilfssteuerfrau Andrea Fleytas, 23, einen Notruf: „Mayday, Mayday, hier ist die ‚Deepwater Horizon‘. Wir haben ein unkontrollierbares Feuer.“ Kapitän Kuchta ordnete die Evakuierung der Bohrinsel an. Bald waren die Rettungsboote unterwegs. Den übrigen Überlebenden gelang es, eine aufblasbare Rettungsinsel zu aktivieren und einen Verletzten hinein zu bugsieren. Dann rutschte die Insel von der Plattform. Meinhart, Williams und der Kapitän blieben zurück. Einer nach dem anderen sprang.
Ölpest mit 800 Millionen Litern
Das nahe Versorgungsschiff „Damien Bankston“ rettete 115 Überlebende aus dem Wasser. Gegen Mitternacht wurde klar: Elf Arbeiter wurden vermisst. Am nächsten Morgen wurde die Crew per Rettungshubschrauber ausgeflogen. Sie wurden im Krankenhaus versorgt, dann in einem Hotel einquartiert und von Unternehmensanwälten verhört.
In den folgenden Monaten sagten die Überlebenden vor einem Untersuchungsausschuss der Küstenwache und vor dem US-Kongress aus. Nachdem die „Deepwater Horizon“ am 22. April 2010 sank, kam es zur zweiten Katastrophe: ein unkontrollierter Ölaustritt. 87 Tage lang drangen etwa 800 Millionen Liter Öl in den Golf von Mexiko. Vergeblich versuchte BP das Bohrloch zu schließen, konnte erst am 15. Juli den Ölaustritt unterbrechen und bekam das Leck am 19. September 2010 mit einer Entlastungsbohrung endgültig unter Kontrolle.
(einestages, Spiegel Online)