Bier(r)evolution

Rotbier, Pale Ale, Doppelbock aus dem Holzfass: Kleine Brauereien gehen neue Wege und zapfen, was das Reinheitsgebot hergibt. Prost!

Kirschen! Der Geruch des Getränks, das Markus Lohner serviert, überrascht. Nein, er schockiert. Das soll ein Bier sein? Im Glas schimmert das Amber Ale — so der Name des Biers, das so gar nicht nach Bier riecht — bernsteinfarben, die Kohlensäure steigt in winzigen Perlen auf, ganz oben weißer, feinporiger Schaum, so wie ein Bier sein soll. Doch beim Glas kehrt die Unsicherheit zurück. Daraus trinkt man doch eher Wein? „Die bauchige Form soll dem Bier helfen, seine Aromen zu entfalten“, erklärt der Brauer. Nach dem ersten Schluck wird klar: Trotz der Fruchtaromen hat das Amber Ale eine typische Bierbitterkeit und ist kaum süß. Das Geheimnis des Geschmacks: der Hopfen.

Markus Lohner ist ein nüchterner, auf den ersten Blick wortkarger Mann. Doch geht es um Bier und dessen Zutaten, leuchten seine braunen Augen und er wird redselig. „Große Brauereien nutzen nur wenige Hopfen- und ebenso wenige Malzsorten, damit kann man gutes Standardbier brauen, mehr aber nicht“, sagt er. Seine Brauerei, die Camba Bavaria, die der Braumeister und Braukesselbauer gegründet hat, arbeitet mit über 25 Hopfensorten. Das sorgt für exotische Geschmacksrichtungen.

Andere Camba-Biere, wie das von den Briten inspirierte Pale Ale, riechen nach Zitrone — wie ein Radler oder Alsterwasser. Nur, dass keine Limo drin ist. Eines der Dunklen riecht und schmeckt nach dunkler Schokolade. Der Clou: „Wir geben teilweise den Hopfen erst in das fast fertige Bier.“ Dann kann der Hopfen seine Aromen voll entfalten. Bei Bieren wie dem Pils kommt der Hopfen schon komplett in den heißen Brausud und macht das Bier haltbarer und sorgt für den typischen, mehr oder weniger bitteren Geschmack. „Die feinen Aromen haut man so aber zum Fenster raus“, sagt Lohner.

Deutschland erlebt eine Bierrevolution. In der gesamten Republik gehen Brauer neue alte Wege, brauen alte Bierstile wie Doppelbock oder britisches Pale Ale, in dem Hopfen eine große Rolle spielt. Ihnen geht es weniger darum, einen Biergeschmack zu kreieren und diesen zur Marke zu entwickeln. Sie wollen Biere brauen, die einzigartig sind wie ein Wein, der im einen Jahr fruchtig und im nächsten Jahr herb ausfällt.

Eine riesige Spielwiese. „Die deutschen Brauer werden mutiger“, sagt Walter König vom Bayerischen Brauerbund. Das Reinheitsgebot ist da kein Hindernis „Mit den Rohstoffen Hopfen, Malz und unterschiedlichen Hefen gibt es eine riesige Spielwiese“, so König. Vorbild sind die USA, dort sind kleine Brauwerkstätten, sogenannte Craft-Breweries, längst Teil der Bierkultur mit einem Marktanteil von fünf Prozent.

Eines der deutschen Zentren ist Markus Lohners Brauerei Camba Bavaria in Truchtlaching. Unweit des Chiemsees in einer bayerischen Bilderbuchlandschaft mit grünen Wiesen und Bergen am Horizont wird dort seit 2008 Bier gebraut.

Camba kommt vom alten keltischen Wort für Brauhaus. Entsprechend traditionell ging es im ersten Jahr in der kleinen Brauerei zu. „Wir haben erst mal nur das für Bayern typische Helle und Weißbier gebraut. Sonst hätten mich die Leute für verrückt erklärt“, sagt Lohner. Inzwischen gibt es bei Camba fast vierzig Sorten Bier. „Vor allem Frauen freuen sich über die exotischen Sorten wie das Amber Ale“, erklärt er. Auf die Frage, ob es schwierig ist, gestandene Mannsbilder für einem neuen Bierstil zu gewinnen, lächelt der Brauer nur wissend.

Auch wenn Craft-Biere viel Überzeugungsarbeit und eine offene Kundschaft brauchen, für Lohner wird es langsam zu eng in Truchtlaching. Anfang 2014 wird auch in der Umgebung gebraut und in München soll die erste Bierbar nach amerikanischem Vorbild mit mindestens 40 Sorten, am besten vom Fass, eröffnen. Schon heute kommen etliche Camba-Trinker aus der anderthalb Autostunden entfernten Landeshauptstadt.

Keine Bierbar, sondern Deutschlands größten Biershop stellen in Hamburg Maximilian Marner und Ian Pyle vor. Marner und der amerikanische Braumeister Pyle fühlen sich inmitten der riesigen Bierauswahl sichtlich wohl. Marner hat mit Geschäftspartnern die alte Hamburger Biermarke Ratsherrn wiederbelebt. Nach Erfolgen mit Hamburger Rotbier, einer fast vergessenen hanseatischen Spezialität und dem für Craft-Brauer typischen, weil so vielfältigen, Pale Ale, wollen die Ratsherrn nun Deutschlands größten Biershop etablieren. In den Holzregalen stehen mehr als 320 verschiedene Biere, unterteilt in über 60 Bierstile.

Die Auswahl ist für Laien überwältigend. Unter Anleitung der Experten geht es zur Verkostung an die Bar. Sie ist aus hölzernen Bierkisten gebaut und steht in der Mitte des Ladens. Das unbehandelte Holz strahlt eine rustikale Gemütlichkeit aus. Ganz so schnieke wie bei edlen Weinen braucht es bei edlem Bier nicht zu sein. Doch vieles erinnert an eine Weinprobe, vor allem die Gläser. Stichwort: Aromen erleben. Marner und Pyle präsentieren sechs Biere. Als drittes schäumt das Ratsherrn Pale Ale im Glas. In der Verkostungsreihe ist es das einzige Bier, das sich auch Bier nennen darf. Denn nach deutscher Regelung darf hierzulande nur Bier heißen, was ausschließlich Hopfen, Malz, Hefe und Wasser enthält, so steht es im Reinheitsgebot. Mehr brauchen viele Craft-Brauer auch nicht. Dank fünf verschiedenen Hopfensorten hat das Bier ein zwar blumig-süßliches Aroma, schmeckt aber fruchtig und herb. Ein Sommerbier mit einem Alkoholgehalt von 5,6 Volumenprozent, etwas stärker als etwa ein Pils, und ein guter Begleiter zu scharfen Grillgerichten.

Auch wenn Pale Ale neuartig klingt, stehen die Ratsherrn-Brauer mit ihrem Pale Ale in einer langen Hamburger Tradition. Im Mittelalter galt die Stadt als das Brauhaus der Hanse. Um 1540 wurden 531 Braustätten gezählt. Auch das britische Pale Ale fand über Hamburg seinen Weg nach Deutschland. Um solche Traditionen wieder aufleben zu lassen, kam Pyle nach Deutschland. Alte Brauweisen faszinieren ihn: Im Mittelalter wurde das Wasser für das Bier noch aus den Fleeten gezogen. Nicht ganz appetitlich, aber wahr: Die Elbarme dienten damals noch als Abwasserkanäle. Ihr Wasser galt als salzig und bra- ckig — und gab dem Hamburger Bier seine hochgelobte Würze. Pyles Kollegen warten gespannt, wie er den Geschmack der Fleete nachahmen wird.

Ein Berater braut. Auch alte Brauereien wandeln sich. Riegele in Augsburg etwa blickt auf eine fast 700-jährige Geschichte zurück. Geschäftsführer Sebastian Priller machte erst gar keine Anstalten, die Brauerei von seinem Vater zu übernehmen. Er studierte Betriebswirtschaft statt Brauereiwesen. Doch dann hängte er seinen Beraterjob bei der Boston Consulting Group an den Nagel und kehrte in die Brauerei zurück. Auch wenn Priller keine entsprechende Ausbildung hat, machen ihm in Sachen Bier wenige etwas vor. Er ist amtierender Weltmeister der Biersommeliers und kann über Geschmack und wie man ihn erzeugt, besser und ausdauernder referieren als mancher Braumeister. Seit der Junior am Ruder ist, braut Riegele neben den bayerischen Klassikern wie Helles und Weißbier auch Spezialitäten wie das Michaeli, ein Bier, das nur zwischen Ende September und März gebraut wird, und das Porter, ein sehr dunkles, malziges Bier, das in England sehr bekannt ist.

Geht es nach Priller, wird seine Brauerei bald zig Sorten im Angebot haben. „Beim Bier sind wir noch in der Grundlagenforschung: Es gibt weltweit rund 200 Hopfensorten, von denen gerade einmal die Hälfte nach ihren Aromen klassifiziert ist.“ Die Spezialbiere haben ihren Preis. Ein Gebinde Michaeli mit sechs 0,75-Liter-Flaschen kostet 95,94 Euro. Solche Preise rufen bekannte Winzer für ihre Jahrgangssekte auf. Auch einige fassgelagerte Spezialitäten der Camba Bavaria liegen in diesem Preissegment. „Bier wandelt sich von der Zigarette zur Zigarre“ sagt Priller. „Dieser Trend wird viele Brauereien retten“, glaubt er. Denn die Deutschen tranken zuletzt immer weniger von ihrem einstigen Lieblingsgebräu.

Ein Problem, das auch große Brauereien kennen. Sie beobachten den Craft-Biertrend. Die Radeberger Gruppe, Teil des Lebensmittelmultis Dr. Oetker und größter deutscher Brauer, hat mit Braufactum eine Art Bierhandel gegründet und vermarktet unter diesem Dach Biere von kleinen Brauereien. Abgefüllt in edlen Champagnerflaschen mit noblem, schwarzem Etikett sind die Biere online oder in ausgewählten Feinkostläden erhältlich zu Preisen zwischen 2,50 Euro bis fast 30 Euro pro Flasche.

Für Individualisten. Erst Ende Juli ist die Bitburger Braugruppe, Nummer3 am deutschen Biermarkt, mit Craftwerk Brewing an den Start gegangen. Hinter dem Namen steht die hauseigene Versuchsbrauerei. Hier wird seit den 90er- Jahren rund um das Produkt Bier und den Brauprozess geforscht. Seit 2009 wird auch Craft-Bier in Form von hopfenbetonten Ales gebraut. Nun sind die ersten drei Sorten online erhältlich. Die Getränkemärkte will Bitburger allerdings vorerst nicht erobern. „Wir setzen eher auf Onlinemarketing über soziale Netzwerke“, sagt Craftwerk-Leiter Stefan Hanke. „Craftwerk ist kein Massenprodukt, es richtet sich an Individualisten“, beschreibt Hanke die Zielgruppe. Wenn große Brauereien sich trauen, dann ist das ein sicheres Zeichen, dass man mit Craft-Bier auch Geld verdienen kann. Für Biertrinker heißt das: die Welt wird bunter. Also keine Angst vor ungewöhnlichen Aromen, Etiketten, Namen und Gläsern, sondern einfach probieren!

von Markus Hinterberger und Jasmin Lörchner; erschienen in €uro 10/2013