Als die Spanische Grippe San Francisco erwischte

1919: American Red Cross volunteers carry a Spanish flu victim, 1919. It is estimated that anywhere from 20 to 100 million people were killed worldwide, or the approximate equivalent of one third of the population of Europe, more than double the number killed in World War I.
(Flickr)

In der ersten Epidemie-Welle erließ San Francisco eine Maskenpflicht für alle. Bürger rebellierten, die Regeln wurden gelockert – zu früh: Die Spanische Grippe traf die Stadt 1919 noch wuchtiger.

Punkt 12 Uhr mittags kam das Zeichen der Entwarnung. Sirenenheulen verkündete den Bürgern von San Francisco am 21. November 1918, dass die schlimmste Phase der Spanischen Grippe in ihrer Stadt überstanden, die Mundschutzpflicht damit aufgehoben war. Sofort zogen sich die Bürger ihre Masken vom Gesicht und ließen sie fallen. Bald waren die Gehsteige damit übersät.

Noch Sekunden vor der Sirene hatte ein Polizist einen Mann angeherrscht, seine Maske wieder aufzusetzen – er hatte sie heruntergezogen, um sich zu schnäuzen. Nun riss sich der Nicht-Mehr-Delinquent das Stück Stoff vom Gesicht, warf’s auf den Boden und landete nach einem Luftsprung mit beiden Füßen darauf. „He, Sie da!“, rief der Polizist. Dann sah er in die maskenlosen Gesichter um ihn herum und ließ den Mann gewähren.

Die Erleichterung war groß in San Francisco. 1918 hatte sich die gefährliche Spanische Grippe in Wellen ausgebreitet, weltweit starben daran bis zu 50 Millionen Menschen. Damit forderte das verheerende Virus mehr Todesopfer als der Erste Weltkrieg.

Die Stadt an der US-Westküste war im Frühling 1918 zunächst verschont geblieben. Als die Epidemie im Herbst doch ankam, ergriffen die Stadtoberen eilig Vorsichtsmaßnahmen und verhängten eine Maskenpflicht. Die Kurve neuer Infektionen flachte ab, daher wurden die Einschränkungen des öffentlichen Lebens Ende November 1918 gelockert, Schluss mit der Maskenpflicht. Der „San Francisco Chronicle“ schrieb von einer vierwöchigen „Masken-Misere“ und titelte: „San Francisco wirft im Handumdrehen freudig die Masken ab“.

„Gefährliche Faulenzer“

Auf fast gespenstische Weise erinnern die Debatten über die Coronakrise heute an den Umgang mit der Spanischen Grippe vor gut hundert Jahren. In San Francisco hatten die Bürger sich zunächst gut mit der Verordnung arrangiert. Nachdem die Zahl der Infektionen sich in nur drei Wochen rasant erhöht hatte, verpflichtete die Stadtverwaltung auf Anraten ihres leitenden Gesundheitsexperten Dr. William C. Hassler ab 18. Oktober 1918 zunächst Friseure zum Mundschutz bei der Arbeit, tags darauf auch Verkäufer, Bank- und Hotelangestellte und andere Berufe mit direktem Kundenkontakt. Am 21. Oktober empfahl die Gesundheitsbehörde allen Bürgern Masken in der Öffentlichkeit.

„Eine Maske bietet zu 99 Prozent Schutz gegen Influenza. Wer sie nicht trägt, wird krank“, erklärten Bürgermeister James Rolph und das Rote Kreuz in einem gemeinsamen Appell und warnten: „Der Mann, die Frau oder das Kind, die jetzt keine Masken tragen, sind gefährliche Faulenzer.“

Vier von fünf Bürgern trugen freiwillig einen Mundschutz, andere fanden das übertrieben oder zweifelte an den Empfehlungen. Deshalb verhängte die Stadtverwaltung am 25. Oktober eine Maskenpflicht für ganz San Francisco. Wer sich ohne Mundschutz erwischen ließ oder ihn nur von einem Ohr baumeln ließ, wurde wegen Störung der öffentlichen Sicherheit verwarnt und musste fünf Dollar Strafe zahlen. Polizisten zauderten nicht lang, Unmaskierte in eine Arrestzelle zu stecken. Zeitweise kam es täglich zu gut 100 Festnahmen.

Mancher Ordnungshüter verfiel gar in Übereifer. Ein Gesundheitsbeamter schritt ein, als ein Bürger Masken „völligen Blödsinn“ nannte und Passanten überreden wollte, sie abzulegen. Er zerrte den Mann zu einer nahen Apotheke. Der Mann widersetzte sich dem Mundschutzkauf, im Handgemenge begann der Beamte zu schießen, verwundete den Unruhestifter und zwei Unbeteiligte.

Bürgermeister ohne Maske erwischt

Selbst die Stadtoberen taugten nicht immer zum Vorbild. Weil die Zahl der Grippekranken Mitte November von über 2000 auf 600 gefallen war, lockerten sie am 16. November die Beschränkungen. Masken blieben jedoch Pflicht. Nach den Quarantänewochen strömten unterhaltungshungrige Bürger noch am selben Tag zum Boxkampf der Schwergewichtler Fred Fulton und Willie Meehan. Bürgermeister Rolph und Dr. Hassler saßen in der ersten Reihe – ohne Mundschutz. Ein Polizeifotograf schickte die Bilder dem Polizeichef. Hassler zahlte fünf Dollar Strafe und entschuldigte sich, er habe die Maske wohl beim Zigarrerauchen verschoben. Bürgermeister Rolph musste 50 Dollar berappen.

Die Maskenpflicht fiel am 21. November 1918, doch bald wirkte die Entwarnung verfrüht: Die zweite Welle der Epidemie erwischte San Francisco mit Wucht. Anfang Dezember gab es 722 Neu-Infektionen, eine Woche darauf rund 1500. Die Politik zögerte mit einer neuen Verordnung – Ladenbesitzer bangten ums Weihnachtsgeschäft, Restaurantbetreiber hatten schon unter dem ersten Shutdown gelitten.

Am 10. Januar wurden 600 neue Fälle an nur einem Tag gemeldet. Daher erklärte Bürgermeister Rolph Masken ab 17. Januar abermals zur Pflicht. Doch viele Bürger, deprimiert von der Rückkehr der Spanischen Grippe, wollten keine neuerlichen Einschränkungen. Auch örtliche Zeitungen zogen in Zweifel, ob Masken den Vormarsch der Epidemie aufhalten könnten.

„Jetzt drehe ich das Licht aus“

Rund 2000 Bürger, darunter einige Ärzte, taten sich zur „Anti-Maskenliga“ zusammen und diskutierten bei einer Versammlung lebhaft über ein Ende der Maßnahmen. Manche wollten eine Petition an die Stadtverwaltung schicken, andere forderten die Absetzung von Dr. Hassler. Beide Lager verfielen in wildes Geschrei, bis es einem Teilnehmer zu viel wurde: „Ich habe diese Halle gemietet, und jetzt drehe ich das Licht aus.“

Schließlich forderte die Liga den Bürgermeister Rolph per Petition auf, die Verordnung aufzuheben. Sie schränke die persönliche Freiheit des Einzelnen ein, argumentierte ein Befürworter in der Stadtverwaltung; zudem sei es undemokratisch, Menschen zu Mundschutz zu zwingen, wenn sie nicht an den Nutzen glaubten. Rolph stellte sich auf die Seite seines Experten Dr. Hassler: „Glauben Sie, ich lasse mich hier lächerlich machen gegen den Wunsch von 99,5 Prozent der Ärzte, gegen die Verantwortlichen von Army und Navy?“

Ende Januar meldeten die Zeitungen endlich einen Rückgang der Krankheitsfälle um 75 Prozent. Am 25. Januar wurden nur noch 35 Neuinfektionen gemeldet, ein neues Tief. Insgesamt verzeichnete San Francisco zwischen September 1918 und Januar 1919 mehr als 50.000 Fälle der Spanischen Grippe, 3500 Bürger starben daran.

Mit der Maskenpflicht war es am 1. Februar 1919 vorbei. Der Bürgermeister hatte sie mit deutlichen Worten verteidigt: „Wir sollten unsere Aufmerksamkeit wichtigen Dingen widmen, statt uns über die kleine Unannehmlichkeit zu streiten, die das Tragen einer Maske zum Wohle der Öffentlichkeit bringt.“

(einestages)