340 Meilen Adrenalin

sdr
(Foto: JL)

Zwei Tage und eine Nacht nonstop durch Berge, Wälder, Wüste – und dabei „No Rules“: The Speed Project ist eines der härtesten Langstreckenrennen der Welt. Der Staffelmarathon von Los Angeles nach Las Vegas bringt die Läufer ein ums andere Mal an ihre Grenzen, verhilft ihnen aber auch zum Adrenalin-Kick ihres Lebens.

Die Nacht ist kalt und finster. Till Harnos ist mutterseelenallein unterwegs im Nirgendwo. Nur sein Atem und das Tappen seiner Schritte auf dem Asphalt durchbrechen die Stille. Das Licht seiner Kopflampe tanzt im Rhythmus seiner Bewegungen über die Straße. Es reicht gerade so weit, dass Harnos den Boden auf Klapperschlangen scannen kann. Er zückt sein Handy und nimmt eine Sprachnachricht auf: „Wüste ist geil! Ich find’s GEIL!!“, hallt seine Stimme durch die Nacht. Gerade hat er seinen vierten Lauf innerhalb von 24 Stunden begonnen, drei weitere hat er noch vor sich. Harnos genießt jeden Schritt. Sein Handy empfängt eine Sprachnachricht von seinem Team: „Du bist geil! Gib alles, rock on!!“

Harnos läuft mit dem „340 Miles Club“ aus Berlin eines der härtesten Langstreckenrennen weltweit: The Speed Project, kurz TSP, führt über 340 Meilen – rund 550 Kilometer – vom Santa Monica Pier in Los Angeles bis zum „Welcome“-Schild in Las Vegas. Die Teams laufen als Frauen- oder Mixed-Staffeln à sechs Mitglieder durch Städte, Berge, Wüste, über Highways und Feldwege, ohne Checkpoints, Erfrischungsstationen oder Streckenaufsicht. Siegerpodium oder Preisgeld? Fehlanzeige. „Wer bei der Anmeldung schon fragt, ob es später eine Medaille gibt, für den ist TSP nicht das richtige Rennen“, sagt Organisator Nils Arend.

Der 39-Jährige mit der Irokesenfrisur und den leuchtend blauen Augen erfand den Extremlauf 2013 als Herausforderung für sich und fünf laufbegeisterte Freunde. Inzwischen hat das Rennen eine internationale Fangemeinde. Arend selbst läuft seit zwei Jahren nicht mehr mit, denn er hat alle Hände voll zu tun, das Ganze mit seiner Eventagentur zu organisieren. Aus eigener Erfahrung weiß er, wie streng reglementiert viele Läufe sind – bis hin zur Uhrzeit, ab der die Athleten Lampen tragen müssen. Beim TSP dagegen ist das Motto: „No rules“. Die Teams bekommen ein Booklet mit Notfallnummern von Krankenhäusern, außerdem Karten der 39 Laufabschnitte, Abkürzungen sind erlaubt. Es geht um das Erlebnis des Laufens, um Freiheit und Abenteuer, um die Besinnung auf extreme körperliche Anstrengung und um den Zusammenhalt als Gruppe.

Mehr als 100 Teams hatten sich 2019 für die Teilnahme beworben, 43 hat Arend eingeladen. Ihre Wohnmobile säumen an einem Freitag im März um vier Uhr morgens die Ocean Avenue in Los Angeles. Noch rollt kaum Verkehr, vereinzelte Nachtschwärmer schlurfen über den Bürgersteig. Am Eingang zum Santa Monica Pier treffen minütlich mehr Läufer ein, beginnen sich aufzuwärmen. Irgendwann übertönt ihr Stimmengewirr das Rauschen des Ozeans, der wenige hundert Meter entfernt an den Strand rollt.

Mitten im Gewühl steht Dominique Oberdieck, Team Captain des 340 Miles Club. Sie interessierte sich nicht besonders fürs Laufen, bis sie 2013 Videos von Arends erstem Rennen sah. Er quälte sich sichtlich durch die raue Landschaft des US-Südwestens – und trug dennoch ein Lächeln im Gesicht. „Ich fand es berührend, wie die Läufer bis an ihre Grenzen gingen – und dazu dann diese krasse Natur. Da hat’s mich gepackt“, erzählt Oberdieck. Sie lud sich eine Trainings-App runter und lief los. Drei Monate später biss sie sich durch ihren ersten Zehn-Kilometer-Lauf in Berlin. Als ihr Job zu stressig wurde, trat das Laufen in den Hintergrund, Anfang 2018 motivierte sie sich neu. Jetzt, nach einem Jahr Planung und Training, steht die 39-Jährige am Pazifik an der Startlinie. Langarmshirt und Leggings schützen sie vor der kühlen Morgenluft, trotzdem zittert sie ein wenig. Und hat plötzlich Zweifel: Ist sie wirklich gut genug vorbereitet? Hat sie Kraft genug oder wird sie in der Hitze schlappmachen? Arend taucht auf, in Laufhose und Laufschuhen, weißem Hemd und Anzugjacke. Er zählt durch ein Megafon den Countdown runter: „Three, two, one – go!“ Von Anfeuerungsrufen begleitet sprinten die Läufer auf den Ocean Boulevard. Oberdieck fühlt sich, als sei sie in eine Herde Wildpferde geraten. Sie versucht zwei Blöcke lang ihr Tempo zu finden, biegt rechts ein auf den Santa Monica Boulevard. Als sie ihren Teamkollegen Uli Krebs entdeckt, entspannt sie sich sofort. Krebs fährt auf dem Rad vorweg, warnt sie vor Schlaglöchern, lotst sie über Kreuzungen. Hinter ihnen im Begleitfahrzeug studieren ihre übrigen Teamkollegen den Streckenplan und halten Wasser bereit.

In diesem Jahr treten erstmals auch professionell organisierte Teams beim TSP an. Die „Blue Ribbon Sports“-Staffel des Sportartikelkonzerns Nike spielt auf den Gründungsnamen des Unternehmens an, Konkurrent Adidas hat sechs Läufer aus seiner internationalen Community „Adidas Runners“ rekrutiert. Beide Staffeln wollen den aktuellen Streckenrekord von 35 Stunden und 49 Minuten brechen. Die sechs Läuferinnen des neuseeländischen Teams „Tempo“, ebenfalls versierte Langstrecklerinnen, wollen die Bestzeit für Frauenteams verbessern: 44 Stunden, 27 Minuten.

Der 340 Miles Club ist mit elf Läufern zu groß, um in der Gesamtwertung mitzulaufen. Das Berliner Team besteht zudem aus Läufern mit unterschiedlichen Erfahrungen und Trainingsständen und plant daher mit einer Zeit von 50 Stunden. Wichtiger ist ihnen, mehr über die eigenen physischen und mentalen Grenzen zu lernen, unterwegs jeden Moment zu genießen und am Ende alle Läufer ins Ziel zu bringen. Doch das könnte schwierig werden – zuhause ist es der Gruppe nicht einmal gelungen, vollzählig zu trainieren. „Das hier wird ein Experiment“, fasst Oberdieck die Mission TSP kurz und bündig zusammen. Jetzt aber konzentriert sie sich erst einmal auf ihre eigene Performance. Es geht vorbei am legendären Plattenladen Amoeba Music und weiter über den Sunset Boulevard in Richtung Stadtrand. „Good morning!“ ruft sie perplexen Passanten zu.

Zehn Kilometer weiter steigt sie mit einem breiten Lächeln wieder in den Bus – Adrenalin! Krebs hat sie abgelöst. Oberdieck schlüpft in Jogginghose und Hoodie, stopft ihre verschwitzte Laufkleidung in einen deodorierten Müllsack und lässt sich in einen Sitz fallen. „Das war so geil da draußen!“ Teamkollege Stephan Pelster reicht ihr einen Massagestab, den sie über ihre Oberschenkel- und Wadenmuskeln rollt, während die Crewmitglieder die bemerkenswerte Strategie des Adidas-Teams diskutieren: Dessen Läufer wechseln sich alle 500 Meter ab, um Sprints einlegen und damit über die gesamte Strecke ein hohes Tempo aufrechterhalten zu können. Funktioniert offenbar: Adidas ist dem führenden Nike-Team hart auf den Fersen.

In Los Angeles hat unterdessen die morgendliche Rush Hour eingesetzt. Pendler feuern hupend Till Harnos aus dem Berliner Team an, als er seinen Teamkollegen Ben Fuchs an einer Kreuzung abklatscht. Die Apartmenthäuser der Wohnviertel sind Stripmalls, Reifenhändlern und Fliesenlagern gewichen. „Guns and dope? Don’t lose hope“ wirbt ein poetisch veranlagter Anwalt auf einer Werbetafel für seine Dienste. Harnos spurtet an einem FedEx-Verteilzentrum vorbei, dessen Mitarbeiter gerade zur Frühschicht antreten. Nach 50 Kilometern erreichen die Teams die Stadtgrenze von Los Angeles. Plötzlich: Natur. Während die Sonne steigt, geht es durch die nordwestlichen Ausläufer des Angeles National Forest vorbei an Douglas-Fichten und Kiefern, dann in den Soledad Canyon. Entlang saftig grüner Hänge kämpfen sich die Läufer hinauf bis auf 1000 Meter über dem Meeresspiegel. Dort werden sie mit dem Anblick von gelben und weißen Wildblumen belohnt, die die schnurgerade Straße einrahmen. Auf den Bergrücken in der Ferne glitzert Schnee. Dann wird die Landschaft wieder ebener, die Vegetation karger. Die Wüste ruft!

Die Tempo-Frauen liegen gegen Mittag auf Platz drei der Gesamtwertung. Die Läuferinnen sind Profis, Lydia O’Donnell zum Beispiel startet regelmäßig bei Halbmarathons und Marathons, Teamkollegin Hannah Wells ist eine erfolgreiche Triathletin. Sorgen machen ihnen weniger die körperlichen Belastungen beim Wüstenlauf, sondern die Streckenbedingungen: „Unsichere Nachbarschaft, nicht angeleinte Hunde!“ warnt das TSP-Handbuch vor einer Ansiedlung bei Kilometer 183. Im Vorjahr wurde hier eine Teilnehmerin gebissen. Zwei Begleitfahrzeuge schirmen Wells auf der schlecht geteerten Hauptstraße ab, ein Crewmitglied läuft mit einem Knüppel neben ihr. Nach fünf Minuten Anspannung ist der Dorfausgang erreicht, das Team atmet auf.

Dann endet die Asphaltdecke, der Van holpert über die unbefestigte Piste weiter. Wells wird von Staub eingehüllt, ihre Schritte knirschen auf dem sandigen Boden. Hinter Maschendrahtzäunen schimmert Metall in der Sonne: Zu Hunderten parken hier ausgemusterte Flugzeuge, die einzigen Zeugen der Zivilisation in der Einöde. Der Boden ist mit dornigen Büschen bedeckt, es gibt keinen Schatten – höchstens hinter den vereinzelten Joshua Trees, die ihre stacheligen Arme in den Himmel recken. Wie eine Fata Morgana tauchen am Wegesrand plötzlich ein paar Vans und Jeeps auf, daneben Klapptisch und Campingstühle. Antoine  und Guy arbeiten sonst in Restaurants in Los Angeles, heute veranstalten sie ein Wüsten-BBQ, braten Burger für Arend und seine Crew, die zwischen den Teams hin- und herfahren, um sie anzufeuern, ihren Status zu checken und Geschichten für den Live-Feed zu sammeln, mit dem sie im Internet über das Rennen informieren. Antoine reicht einen Burger rüber, während hinter ihm ein Flugzeug zur letzten Landung ansetzt.

Als die Sonne sinkt und damit auch die Temperatur, liefern sich die Staffeln von Nike und Adidas ein enges Rennen um die Führung. Dann verschwindet plötzlich das GPS-Signal der Nike-Läufer. Unter Teilnehmern und Veranstaltern macht das Gerücht die Runde, das Team habe eine Abkürzung durch die Berge zwischen Death Valley und Mojave-Wüste genommen. Der 340 Miles Club kämpft unterdessen mit der regulären Strecke – und der Dunkelheit. Laut Karte müsste Läufer Steffen Stoltmann bei Kilometer 290 durch ein Loch im Zaun schlüpfen. Doch die Crew im Begleitfahrzeug kann die Stelle nicht finden, das  Dorngestrüpp liefert keine Anhaltspunkte zur Orientierung. Stoltmann stolpert ohne Infos aus dem Van durch die Nacht. Er hatte sich seine Kräfte für die geplanten sechs Kilometer eingeteilt und Gas gegeben, jeder weitere Kilometer wird zur Qual. „Ich bin der Läufer, ihr müsst mir folgen, nicht ich euch. Wo seid ihr? Maannn!!!“ raunzt er entnervt ins Handy. Dann die Nachricht aus dem Van: „Bleib mal stehen, wir haben uns verfranzt.“ Die Stimmung ist auf dem Nullpunkt.

Am nächsten Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, herrscht auch beim Tempo-Team Frust. Lydia O’Donnell und Hannah Wells treten in weite Jacken gehüllt an einer Tankstelle in Baker von einem Bein aufs andere. Sie hatten die gleiche Abkürzung wie das Nike-Team eingeschlagen, doch der Weg war zu sandig. Das Begleitfahrzeug blieb mehrmals stecken, musste schließlich  umkehren.

Die Frauen sind 26 Meilen umsonst gelaufen, haben 90 Minuten und vier Plätze auf die Führenden verloren. Die Enttäuschung steht O’Donnell und Wells ins Gesicht geschrieben. „Mädels, kämpft weiter. Ihr könnt es schaffen“, versucht ein Betreuer sie aufzumuntern. „Man sagt ja, im Leben gibt es keine Abkürzungen.“ Mühsam ringen sich die Athletinnen ein Lächeln ab. Doch wenige Minuten später sprintet O’Donnell schon wieder mit frischer Energie über den Parkplatz.

Zwei Drittel des Rennens sind geschafft, aber Übermüdung und Erschöpfung stellen nun auch das deutsche Team auf die Probe. Steffen Stoltmann lotst Dominique Oberdieck auf einen falschen Weg, zu allem Überfluss biegt der Fahrer des Begleitfahrzeugs versehentlich auf den Highway ab. Während er im Höchsttempo zur nächsten Ausfahrt rast, verläuft sich Oberdieck in der Hitze. Fast k.o. steigt sie nach ihrem Irrlauf in den Van. Nach mehr als 24 Stunden auf engstem Raum, gezeichnet von Schlafentzug und Ermattung, kochen die Emotionen der Gruppe in einer lautstarken Diskussion hoch – zumal durch die Irrfahrt auch noch der Sprit knapp geworden ist.

Zum Glück besänftigt die grandiose Natur die kleine Gemeinschaft bald wieder: Schier endlos erstreckt sich die Mondlandschaft in der Dämmerung, am Horizont sind gelbe Sanddünen auszumachen – kein Wunder, dass George Lucas in diesem unwirklichen Landstrich Teile seiner „Star Wars“-Filme drehte. Mit brennenden Beinmuskeln arbeitet sich Ben Fuchs noch einmal eine endlose Steigung hinauf. Steffen Stoltmann läuft zur moralischen Unterstützung neben ihm, sie schnaufen im Gleichklang. Schließlich windet sich die Straße in einer Linkskurve um den Berg und gibt den Blick auf ein weites Tal frei. Die beiden Berliner reißen erleichtert die Arme über den Kopf: Es geht bergab, und bis Las Vegas sind es noch 60 Kilometer. Hey, was sind jetzt noch 60 Kilometer?

Die Sieger sind da bereits in der Spielerstadt eingetroffen. Touristen und Hochzeitspaare stehen vor dem „Welcome“-Zeichen Schlange, um Erinnerungsfotos zu schießen, Autokolonnen schieben sich über den Strip. In der flirrenden Hitze taucht eine einsame Figur in weißem Shirt und blauen Shorts auf: der Nike-Schlussläufer. Am Straßenrand hält ein Bus, die übrigen Teammitglieder springen heraus, schließen sich dem Mann an. Unter dem Jubel von Nils Arend und seiner Crew erreicht das Sextett das Neonschild. Korken knallen, Sekt spritzt. Der Abkürzungsversuch durch die Berge hätte das Team beinahe noch zur Aufgabe gezwungen, nun hat es mit 31:15 Stunden sogar einen neuen TSP-Rekord aufgestellt. Adidas trifft drei Stunden später ein, gefolgt von Tempo. Die Neuseeländerinnen haben sich von Platz sieben zurück aufs Podium gearbeitet – und den Rekord für die Frauenkonkurrenz gebrochen.

Es ist bereits nach Mitternacht, als auch der 340 Miles Club in Las Vegas einläuft. Am Las-Vegas-Schild ist es ruhig geworden, die Touristen sind in die Kasinos weitergezogen. Die Berliner fallen einander in die Arme, auch sie nehmen Sektduschen, die Strapazen der  vergangenen zwei Tage sind vergessen. Immerhin: Sie haben ihre anvisierte Zeit um vier Stunden unterboten. Erleichtert und ausgelassen stellen sie sich mit ihrer Clubfahne fürs Erinnerungsfoto auf: elf Läufer, vier Begleiter. Alles Sieger.