Ken Rogoff: „Jede große Notenbank wird Negativzinsen einführen“

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Prof. Kenneth Rogoff (Flickr)

In der Finanzkrise haben die Notenbanken das Schlimmste verhindert. Nun sind ihre Mittel aber begrenzt, warnt der US-Ökonom Kenneth Rogoff im Interview.

€uro: Professor Rogoff, Großbritannien steckt im Brexit-Chaos, Italiens Banken straucheln, und in China lässt das Wachstum immer mehr nach. Was davon ist die größte Gefahr für die Weltwirtschaft?

Kenneth Rogoff: Der Brexit ist eine riesige Quelle der Ungewissheit und furchtbar für Großbritannien und die EU. Und Italien hat seit Jahrzehnten viel Schattenwirtschaft, kaum Wachstum und häuft gleichzeitig hohe Schulden an. Aber wenn die Leitzinsen so niedrig bleiben, kann Italien seine Probleme meiner Meinung nach lösen. Ich glaube eher, dass sich die Welt vor allem auf ein schwächeres Wachstum in China einstellen muss. Investitionen sind dort nicht mehr so lukrativ wie früher, die Zahl der  Erwerbstätigen sinkt, und technologisch hat China schon den größten Schritt hinter sich.

Das heißt, wir müssen uns auf einen Einbruch von Chinas Wirtschaft einstellen?

Die Gefahr einer Rezession in China ist zwar sehr klein. Aber das Wachstum wird von aktuell sechs oder sieben Prozent — und das ist für chinesische Verhältnisse schon wenig — auf bestenfalls drei oder vier Prozent fallen. Das fühlt sich dann an wie eine Rezession. Eine ganz ähnliche Situation hatten wir in den 1980ern in Japan. Dort fiel das Wachstum von sieben bis neun Prozent pro Jahr auf drei Prozent, weshalb man von einer Wachstumsrezession sprach. China hat in den vergangenen 40 Jahren wirtschaftlich immer den Ton angegeben, viele Megatrends der globalen Wirtschaft kamen von dort. Lässt nun das Wachstum in China nach, ist das eine Veränderung, die die Welt erst einmal verdauen muss. Geht die Verlangsamung zu schnell, werden viele Länder Probleme bekommen. Etwa Australien, das China Rohstoffe liefert, oder Deutschland, das dort Autos verkauft. In Deutschland ist der Rückgang schon jetzt der größte Einflussfaktor für die Wirtschaft. Aber auch die USA werden ihn spüren, denn China investiert enorme Summen in US-Anleihen, leiht dem Land also viel Geld.

US-Präsident Donald Trump scheint das egal zu sein. Er hat einen Handelskrieg mit China angezettelt, der zu eskalieren droht. Das könnte der ganzen Welt Probleme bescheren. Was bezweckt er damit?

Trump macht immer viel Lärm. Was er genau will, weiß man nie. Aber der demokratische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders hat in Sachen Handel eine sehr ähnliche Sichtweise wie der Republikaner Trump. Auch die progressiven Demokraten scheren sich im Allgemeinen wenig um den Rest der Welt. Sie glauben, wenn sie die Wirtschaft abschotten, würde das die Zeit irgendwie zurückdrehen. Aber das passiert nicht.

Trump wirft China unter anderem Spionage und Ideenklau vor. Hat er damit recht?

Es gibt wirklich große Probleme mit intellektuellem Diebstahl und Cyberspionage, da muss China moralisch erwachsen werden. Donald Trump wirkt mit seinem unzivilisierten Auftreten als Katalysator. Er treibt das Thema voran, wie es wohl kein anderer tun würde. Die Erklärungsansätze für seine Politik entbehren aber jeglicher wissenschaftlicher Basis, um es höflich zu sagen. Das liegt auch daran, dass sein Wirtschaftsberater Peter Navarro in Handelsdingen ein Analphabet ist.

Was würde denn passieren, wenn der Konflikt beide Länder in eine Krise oder eine Rezession stürzen würde?

Dann hätten wir eine globale Rezession. Denn es gäbe keinen, der die wirtschaftliche Lücke füllen könnte. Indien hat zwar das Potenzial, einmal in Chinas Fußstapfen zu treten. Aber niemand weiß, ob und wann das passieren wird. Und Europa fällt wegen verschiedener Dinge als Wachstumsmotor aus. Sollte es so kommen, würde das massive Schuldenkrisen auslösen. Bedenkt man, wie sehr der Populismus gerade an Macht gewinnt, will man sich kaum ausmalen, welche Folgen das hätte. Aber ich glaube nicht, dass eine globale Rezession unmittelbar bevorsteht.

Was macht Sie da so optimistisch?

Den USA geht es gerade ziemlich gut. Ihre Unternehmen sind längst nicht so abhängig von China wie die Europas. Europa scheint mit seiner alternden Bevölkerung, der verlangsamten Produktivität und den sehr niedrigen Zinsen auf dem Weg, das nächste Japan zu werden, wo die Wirtschaft Jahrzehnte stagnierte. Die US-Wirtschaft ist dagegen sehr dynamisch und gesund, es gibt sehr viele Innovationen.

Die US-Wirtschaft ist zuletzt tatsächlich stark gewachsen — und das, obwohl die US-Notenbank Fed die Leitzinsen im vergangenen Jahr gleich vier Mal angehoben hat. Trump ist das zu viel. Er fordert sogar, dass die Fed die Zinsen wieder senkt. Halten Sie das für eine kluge Maßnahme?

Gemessen daran, wie schnell die USA wachsen, ist der Leitzins ohnehin schon sehr niedrig. Ich kann mir kaum vorstellen, warum die Fed im Moment etwas daran ändern sollte.

Wir haben gerade über eine globale Wirtschaftskrise gesprochen. Mal angenommen, so eine Krise würde doch kommen: Haben die Zentralbanken dann noch genügend Spielraum, um gegenzusteuern?

Im Moment stehen die Leitzinsen in den USA bei 2,25 bis 2,5 Prozent. Sobald sie auf null sind, kann die Fed nur noch wenig tun. In der Eurozone liegt der Leitzins immer noch bei null Prozent. Die Mittel der Europäischen Zentralbank sind daher gerade viel  stärker begrenzt, als sie das mit höheren Leitzinsen wären. In meinen Augen ist das ein echtes Problem.

Nach der Finanzkrise haben die Notenbanken massenhaft Wertpapiere wie Staatsanleihen gekauft, um so Geld in die  Finanzmärkte zu pumpen und darüber die Wirtschaft zu stabilisieren. Wäre eine Neuauflage dieses sogenannten Quantitative Easing eine Lösung, wenn es wieder kriselt?

In den USA ist Quantitative Easing nicht mehr als eine Illusion: Es erreicht nichts, was das US-Finanzministerium durch Schuldenaufnahme und Konjunkturprogramme nicht selbst erreichen könnte. In Europa ist das anders. Hier wirkt das Quantitative Easing wie eine synthetische Anleihe, bei der sich alle Staaten der Eurozone gemeinsam verpflichten, sie zurückzuzahlen. In einem sehr engen Rahmen hat die Europäische Zentralbank damit für eine Vergemeinschaftung der Schulden gesorgt. Aber das ist keine normale geldpolitische Maßnahme.

Was wäre aus Ihrer Sicht eine geeignete Maßnahme?

Mein Buch „Der Fluch des Geldes“ beschäftigt sich damit, dass es in Situationen wie der jetzigen wünschenswert sein kann, wenn die Notenbanken den Leitzins unter null senken können.

Weshalb soll es wünschenswert sein, Schuldnern Zinsen zu zahlen, statt welche von ihnen zu bekommen?

In der Theorie wirkt ein negativer Leitzins ganz ähnlich wie Zinssenkungen, wenn der Leitzins positiv ist. Sinken die Kosten für Kredite, investieren die Firmen mehr. Auch die Verbraucher geben mehr Geld aus, vor allem für dauerhafte Verbrauchsgüter wie Kühlschränke und Autos. Geringere Zinsen heben auch die Preise für Vermögenswerte wie Immobilien oder Aktien. Ich glaube deshalb, dass jede große Notenbank innerhalb der kommenden zehn Jahre Negativzinsen einführen wird. Europa und Japan werden das vielleicht schon früher tun.

Glauben Sie, solche Zinssenkungen helfen wirklich?

Die Zinsen sind heute wesentlich tiefer  als die Märkte das 2011 erwartet hatten. Wären die Zinsen seither gestiegen statt gesunken — was aus damaliger Sicht genauso wahrscheinlich war —, würden wir heute in einer anderen Welt leben. Dann wären viel aggressivere Schuldenschnitte und umfangreiche Rettungsaktionen nötig gewesen.

Welche Rolle spielen die Niedrigzinsen denn bei der Anhäufung von Staatsschulden?

Glaubt man daran, dass die Zinsen niedrig bleiben, macht es Sinn, sich mehr Geld zu leihen. Das kann ich nachvollziehen.  Niedrigzinsen erlauben den Staaten, höhere Schulden zu machen, ohne ihre Risiken zu erhöhen.

In den vergangenen beiden Jahren hat die Regierung Trump enorme Schulden gemacht, um zum Beispiel die Steuern zu senken oder das Militärbudget zu erhöhen. Wie bewerten Sie diese Finanzpolitik?

Ich hätte bei den Ausgaben andere Prioritäten gesetzt, aber die USA haben einen enormen Spielraum für expansive Fiskalpolitik. Die Leitzinsen sind so niedrig, dass man eine höhere Verschuldung in Kauf nehmen kann. Man muss sich das Geld jedoch langfristig leihen. Genau das tun die USA aber gerade nicht. Ich finde das bedenklich. Auch Deutschland hat übrigens einen enormen Spielraum für expansive Fiskalpolitik, den es aber nicht nutzt. Das gilt auch für die ganze Eurozone, wenn man den aktuellen Leitzins beachtet. Besonders, wenn die Staaten Anleihen mit längerer Laufzeit nutzen, um die Schulden langfristig zu finanzieren.

Und was passiert, wenn die Zinsen wieder erhöht werden?

Steigen die Zinsen in den nächsten drei Jahren um 1,5 oder zwei Prozent, wäre etwa Italien zurück in der Krise — und viele andere Staaten auch.

Ihr vorheriges Buch „Dieses Mal ist alles anders“ beschäftigte sich mit Staatsschulden und Finanzkrisen. Dort schrieben Sie, dass zu hohe Schulden das Wachstum ausbremsen. 2013 entbrannte eine Debatte um diese Feststellung. Stehen Sie heute noch zu Ihrer damaligen These?

Die Debatte drehte sich um ein Konferenzpapier, das wir später veröffentlicht haben. Der Angriff war politisch und unaufrichtig, denn die Leute, die uns kritisierten, haben in ihren Forschungsergebnissen die Übereinstimmung mit unseren Befunden verborgen. Unsere Erkenntnisse bestehen bis heute. Vereinfacht gesagt: Die Schulden sind in den entwickelten Ländern heute  sehr hoch, und das Wachstum ist vergleichsweise niedrig. Man muss keine tief greifenden wissenschaftlichen Untersuchungen vornehmen, um zu sehen, dass die Daten der vergangenen zehn Jahre unsere Befunde nicht entkräften. Ganz im Gegenteil.

Nach all den Krisenszenarien: Gibt es einen Hoffnungsschimmer für die Weltwirtschaft und neigen wir vielleicht zu sehr zum Pessimismus, wenn wir in die Zukunft blicken?

Ich denke schon. Chinas Wirtschaft wird sich zwar verlangsamen, aber der technologische Wandel wird in den kommenden zehn bis 15 Jahren einen Unterschied machen, die Produktivität wird dramatisch steigen. Das globale Wachstum könnte in dieser Zeit sehr gut ausfallen — auch weil ein Teil des zuletzt niedrigen Wachstums auf die Spätfolgen der Finanzkrise zurückzuführen sind und diese Effekte mit der Zeit verschwinden werden. Ich glaube, die USA und Deutschland werden sich in diesem Umfeld sehr gut schlagen. Ob das auch für den Rest der EU zutrifft, daran zweifle ich ein wenig. Aber das Potenzial ist grundsätzlich da.


Kenneth Rogoff ist 66 Jahre alt und lehrt Wirtschaftswissenschaften und Politikwissenschaft an der Harvard University. Er arbeitete von 2001 bis 2003 als Chefökonom beim Internationalen Währungsfonds und analysierte in seinem 2009 zusammen mit seiner Kollegin Carmen Reinhart veröffentlichten Buch „Dieses Mal ist alles anders“ die Geschichte der Finanzkrisen. Sein aktuelles Buch „Der Fluch des Geldes“ ist ein Plädoyer für die Abschaffung des Bargelds. Vor seinem Abschluss an der Yale University und seiner Doktorarbeit am MIT in Boston war Rogoff Schachprofi und erspielte sich den Titel als Großmeister. Später gab er seine Schachkarriere zugunsten seiner wissenschaftlichen Laufbahn auf.

(€uro 07/2019)