Eine ehrliche Haut

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Rinderhälfte beim Trocknen (Foto: JL)

Beim Kick-off zum Super Bowl blickt die halbe Welt gebannt auf einen Football. Das spezielle Leder dafür – und für edle Schuhe – stammt aus einem Traditionsbetrieb in Chicago.

Millionen Augenpaare sind auf den Football gerichtet. Sekundenlang ruht er in der Mitte des Spielfelds, bevor ihn ein Hüne mit einem kräftigen Tritt weit in die gegnerische Hälfte befördert – und damit den Super Bowl eröffnet. Mit kompromisslosem Körpereinsatz und präzise choreografierten Spielzügen kämpfen die beiden besten US-Profiteams jährlich am ersten Sonntag im Februar um Touchdowns und Field Goals – und um den Sieg im Meisterschaftsfinale der National Football League (NFL).

Kein Sportereignis erregt die Amerikaner mehr als der Super Bowl, allein in den USA verfolgen mindestens  100 Millionen Fernsehzuschauer das Spiel. Football zählt hier neben Baseball und Basketball zu den populärsten Sportarten – deshalb findet sich mindestens einer der eiförmigen Bälle auch in nahezu jedem US-Haushalt.

Seit 114 Jahren gerbt Horween Leder in Chicago (Foto: JL)

Was dagegen kaum jemand weiß: Die unverwechselbare Lederhaut des Super-Bowl-Footballs entsteht in einem unscheinbaren Backsteingebäude an der North Elston Avenue in Chicago. In der Gerberei Horween verwandeln Spezialisten und Maschinen ein Stück Rinderhaut binnen fünf Wochen in das Leder für „The Duke“, wie das Sportgerät nach dem Spitznamen des legendären Footballfunktionärs Wellington Mara genannt wird. Hier bekommt das Leder seine griffige Oberfläche, die typischen Noppen, die charakteristische rotbraune Farbe.

Der Name Horween steht seit 114 Jahren für hochwertiges Leder. Neben dem Ausgangsstoff für Profi-und College-Footbälle gerbt Horween auch das Leder für Baseballhandschuhe und Basketbälle. Eine andere Spezialität des Familienbetriebs, der in fünfter Generation besteht, ist Cordovan, ein besonders widerstandsfähiges Leder, das aus Pferdehaut gewonnen und vor allem für die Produktion von Schuhen verwendet wird.

Geleitet wird das Unternehmen von Nick Horween und seinem Vater Arnold, den hier jeder Skip nennt. Auch wenn sie stolz darauf sind, den Ball für das Weltereignis Super Bowl zu liefern: Über ihren eigenen Anteil an diesem Mythos machen sich Vater und Sohn keine Illusionen. „Es gibt eine Menge Menschen, die Football oder Baseball spielen, ohne dass sie je von uns gehört haben“, sagt Horween junior, „unser Produkt nehmen die Leute erst wahr, wenn sie in Händen halten, was unsere Kunden aus dem Leder herstellen.“

Bei der Verarbeitung von Rindsleder setzt die Gerberei ausschließlich auf Stierhäute, weil sie dehnbarer und optisch hochwertiger sind als jene von Kühen, die Kälber ausgetragen haben. Die Haut für den Super-Bowl-Ball durchläuft mehr als 70 Arbeitsschritte vom Zuschnitt bis zur finalen Qualitätsprüfung, dann reicht Horween sie an den Sportgerätehersteller Wilson weiter.

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Horween entwickelte die Formel für die Noppen, die den Football griffig machen (Foto: JL)

Dort werden nur hochwertige Stücke aus der hinteren Rückenpartie – wo auch das beste Fleisch sitzt – zu Footbällen zusammengenäht. Aus der Haut einer Rinderhälfte entstehen maximal vier Bälle. Jede Woche werden der Gerberei 600 bis 1000 Rinderhäute geliefert. Als Horween das Gebäude im  Jahr 1920 bezog, kam das Rohmaterial noch per Schiff von den nahe gelegenen Schlachthäusern – Chicago war damals das Fleischzentrum der Welt und eine Hochburg der Lederverarbeitung. Das ist lange vorbei, viele Gerbereien verlagerten ihre Produktion nach China, um Lohnkosten zu sparen. Horween aber blieb, setzte auf Qualität statt Masse und überstand den Aderlass als einzige von einst mehr als 30 Gerbereien in der Stadt.

Heute kommen die Rinderhäute aus dem Mittleren Westen der USA und aus Kanada. Palettenweise lagern sie im Keller, der fast die Grundfläche einer Sporthalle hat. Ein beißender Geruch erfüllt die Luft, nach tierischem Fett, ranzig und salzig. Um die Häute für den Transport haltbar zu machen, werden sie zuvor in Salz eingelegt. 150 Angestellte arbeiten bei Horween, viele von ihnen schon seit Jahrzehnten. In einer Ecke des Raums breiten zwei Arbeiter in Metzgerschürzen gerade einen Stapel Häute auf einem großen Tisch aus und trennen sie in zwei Hälften. Nach dem Zuschnitt wandern die Häute in riesige Trommeln, deren Formen und Drehbewegungen an Zementmischer erinnern. Darin schwappt eine säurehaltige Lösung, die die Tierhaare an der Wurzel lockert, anschließend werden sie mit dem Salz von der Haut gewaschen.

Als Skip Horween die Firma nach dem Tod seines Vater 2003 übernahm, fand er Trost in dem Gefühl, dass seine Vorfahren im Unternehmen noch allgegenwärtig sind. „Ich fühle ihre Anwesenheit, wenn ich die Treppen hinaufsteige“, sagt er. Hat er wichtige Entscheidungen zu treffen, setzt er sich in sein Büro voller Familienfotos und Erinnerungsstücke – und lauscht. „Man muss nur darauf hören, was das Geschäft einem sagt, denn die Leitlinie ist klar“, sagt Horween senior, „man sollte einfach das tun, womit man sich auskennt und worin man gut ist.“

Tatsächlich betreibt Horween die Lederverarbeitung im Prinzip noch genau so, wie Firmengründer Isadore Horween es Ende des 19. Jahrhunderts in der Ukraine gelernt hat. Nach dem frühen Tod seines Vaters begann Isadore mit zwölf Jahren, in einer Gerberei zu arbeiten. Als 24-Jähriger emigrierte er nach Amerika, 1905 gründete er die Horween Leather Company. Die chemische Haarentfernung ist einer der wenigen neuen Arbeitsschritte, die Horween seither einführte – allerdings erst, nachdem Skips Vater sie in den 1970er-Jahren einem peniblen Test unterzogen hatte.

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Nach dem Entfärben durchlaufen die Rinderhälften eine erste Qualitätskontrolle (Foto: JL)

Um die Häute widerstandsfähig zu machen, werden sie nach der Haarentfernung in große Waschtrommeln gelegt. Zwei Arbeiter sind nötig, um die vollgesogenen Häute in eine Maschine zu hieven, deren Walzen die Flüssigkeit auspressen. Anschließend wird das Rohprodukt vermessen und auf Mängel geprüft. Nick Horween deutet bei einer Haut auf zwei kleine Narben, die parallel zueinander verlaufen, vermutlich Spuren einer Verletzung durch einen Draht oder Zaun. Für Footbälle oder Baseballhandschuhe eignet sich dieses Leder nicht mehr, es kann aber zu Gürteln verarbeitet werden.

Nach einem ersten Färbeprozess und der folgenden Trocknung wird das Leder mit einer Lösung bestrichen, die ihm seine Griffigkeit verleiht. Die Rezeptur dafür hat Nicks Urgroßvater entwickelt, der selbst Football spielte und Trainer war, bevor er in die Gerberei zurückkehrte. Mit seinem Verständnis vom Spiel und seinem Wissen um das Handwerk entwickelte er dieses Wundermittelchen, dessen genaue Zusammensetzung natürlich bis heute geheim gehalten wird. Zusätzlich prägt eine Walze die charakteristische Noppenstruktur ins Leder. Bei genauem Hinschauen entdeckt man auch das kleine geschwungene W, das Markenzeichen von Wilson. Hat das Leder seine charakteristische Farbe, erfolgt die Auslieferung an Wilson, wo es offiziell zum Football wird. Das Original der National Football League kostet knapp 100 Dollar, die limitierte Auflage zum Super Bowl 140 Dollar pro Exemplar. Rund 85 Millionen Dollar wurden im vergangenen Jahr mit dem Verkauf von Footbällen in den USA umgesetzt.

Horween-Leder dient nicht nur zur Produktion von Sportausrüstung. Mindestens ebenso begehrt und prestigeträchtig ist das erwähnte Cordovan, das die Gerberei als Letzte in den USA herstellt. Abnehmer des exklusiven Pferdeleders sind Schuhhersteller wie Allen Edmonds und Alden – alle US-Präsidenten von Ronald Reagan bis Gorge W. Bush leisteten ihren Amtseid in Schuhen aus Cordovan. Der deutsche Uhrenhersteller Nomos fertigt Armbänder aus dem Leder, Brieftaschen aus Cordovan können mehrere Hundert Dollar kosten.

Nick Horween zieht seine Geldbörse aus der Hosentasche: acht Jahre alt, täglich in Gebrauch, ihre Farbe hat sich von Mittel- in sattes Dunkelbraun verwandelt. Horween schätzt diese Metamorphose: „Kaufen drei Leute je ein Paar Schuhe, kann man sicher sein, dass sie fünf Jahre später ganz unterschiedlich aussehen. Die Zeit macht ein Produkt aus einem solchen Leder zu einem persönlichen Gegenstand.“ Cordovan wird aus der Haut der Kruppe gewonnen, dem Hinterteil des Pferdes. Es ist ein  geschmeidig-glattes, sehr langlebiges Leder. Die Häute dafür stammen vorwiegend aus Europa und Kanada, wo noch  Pferdefleisch gegessen wird – allerdings in deutlich abnehmenden Mengen, sodass das Angebot an Rohmaterial stetig knapper wird.

Teuer ist Cordovan aber vor allem wegen seiner aufwendigen Verarbeitung. Mehr als 100 Produktionsschritte sind nötig, sechs Monate dauert die gesamte Prozedur. „Cordovan ist viel empfindlicher in der Herstellung als andere Lederarten, aber danach wesentlich widerstandsfähiger“, erläutert Nick Horween. Anders als Rindsleder kann die Pferdehaut nicht mit Chromlösung behandelt werden, sie schwimmt stattdessen zweimal 30 Tage, erst zur „milderen“ Vorbehandlung, dann in einer organischen Färbelösung aus Baumrinde und Ölen.

Außerdem verträgt das Rohprodukt keine Hitze, muss also an der Luft trocknen. Im Anschluss daran streicht ein Arbeiter mit einer weichen Bürste Öl auf die Haut, bis sie rotbraun glänzt. Daraufhin wird das Leder weitere drei Monate gelagert, damit das Öl tief in die Haut eindringen und diese nachdunkeln kann.

Rasur von Shell Cordovan (Foto: JL)

Im Nebenraum surren die Motoren der Schermaschinen, mit denen letzte Hautpartikel von der Haut geraspelt werden. Horween ist die einzige Gerberei, die den Rasierprozess in klassischer Manier durchführt –  die Konkurrenz lässt die Hautschicht vollautomatisch abschaben, das Ergebnis ist jedoch oft unbefriedigend.

Also bleibt nur, die Maschinen per Hand über die Haut zu führen. „Ohne diese Spezialisten könnten wir unser Leder gar nicht herstellen“, beteuert Nick Horween. Einer seiner Mitarbeiter taucht unterdessen ein rasiertes und schon einmal gefärbtes Stück Cordovan in einen Wassertank, damit überschüssige Farbe hervortritt und mit einem breiten Spachtel abgezogen werden kann. Treten danach Unregelmäßigkeiten auf, wird das Leder erneut gefärbt, mit einer Art Schuhpolitur versiegelt und maschinell „gebügelt“. Erst dann gelangen die Stücke zur finalen Prüfung, die Domäne von Curtis Thomas.

Thomas ist seit 40 Jahren bei Horween, seit 30 Jahren arbeitet er mit Cordovan. Allein vier Jahre lang lernte er von seinem damaligen Vorgesetzten wirklich alles über Leder, bevor er selbst verantwortlich wurde. Thomas greift sich ein Stück Leder, prüft es auf gleichmäßige Farbverteilung. Dann schließt er die Augen, fährt behutsam mit den Fingern über das Material.

Wenn es sein muss, walkt er das Leder, zerrt kräftig daran oder bohrt gar seine Finger hinein. „Ich kann es fühlen, wenn etwas nicht stimmt“, sagt er. Er schwärmt von einer Charge brandyfarbenen Cordovans, die vor ihm liegt, und sagt: „Ich habe selbst ein Paar Schuhe aus dem Leder. Wenn ich sie anziehe, fühle ich mich wie eine Million Dollar.“

(Lufthansa exclusive 02/2019)