Der fehlende Malcolm

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FILE - In this file photo of March 5, 1964, Malcolm X is seen during an interview in New York. A never-published introduction to his best-selling autobiography was read publicly for the first time on Wednesday, May 19, 2010. "The Autobiography of Malcolm X," written with co-author Alex Haley, was released shortly after the civil rights leader was assassinated. The existence of the introduction, and three other unpublished chapters were known of since attorney Gregory J. Reed bought them at a 1992 auction of Haley's estate. (AP Photo/Eddie Adams, File)
Malcolm X (Flickr)

1965 wurde Malcolm X, Anführer der Bürgerrechtsbewegung, ermordet. Nun sind Teile seiner Autobiografie aufgetaucht, die lange verschollen schienen und seinen Weg zum radikalen Aktivisten besser ausleuchten.

„Die westliche Welt ist krank. Die amerikanische Gesellschaft – mit ihrem christlichen Gesang, der dem Weißen die Illusion erlaubt, dass das, was er dem Schwarzen angetan hat, richtig sei – ist so krank wie Babylon. Und der Schwarze hier in dieser Wildnis, der sogenannte ‚Neger‘, ist der Krankste von allen.“

Mit aufrüttelnden Worten beginnt Malcolm X das Kapitel „The Negro“ in seiner Autobiografie. Er erklärt Schwarzen ihre Ghettoisierung durch die Weißen und ruft auf zu einer neuen, aktiveren Form des Widerstands. Die Worte des schwarzen Bürgerrechtlers sind in der Wissenschaftswelt eine kleine Sensation: Das ungedruckte Kapitel aus seiner Autobiografie ist eines von dreien, die lange Jahre als vermisst galten.

Am Donnerstag vergangener Woche wurden die Papiere im New Yorker Auktionshaus Guernsey versteigert und gingen für 7000 Dollar an das Schomburg Center for Research in Black Culture. Das New Yorker Institut kaufte außerdem 241 Seiten des Originalmanuskripts für eine geheime Summe – das Startgebot hatte bei 40.000 Dollar gelegen. Es enthält handschriftliche Notizen von Malcolm X und seinem Co-Autor Alex Haley.

„Ich fühle mich geehrt mitzuteilen, dass ein verlorenes Kapitel und das Manuskript der Autobiografie von Malcolm X nach Harlem zurückkehren und zum Schomburg Center kommen“, schrieb Institutsdirektor Kevin Young auf Twitter, mit dem Hashtag #HomeToHarlem: Dort hatte der Bürgerrechtler überwiegend gewirkt, in Harlem wurde er 1965 auch ermordet.

Charismatisch und radikal

„Die Autobiografie ist eines der wichtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts“, sagte Young der „New York Times“. „Diese Version mit Malcolm X‘ Korrekturen zu besitzen, und nachvollziehen zu können, wie seine Gedanken Form annehmen, ist unwahrscheinlich bewegend.“

Malcolm X zählte zu den zentralen Figuren der Bürgerrechtler in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, als rassistische Gewalt den Alltag in den USA stark prägte, vor allem in den Südstaaten. Während Martin Luther King ein gewaltloses Ende der Rassentrennung predigte und Integration anstrebte, vertrat Malcolm X eine weitaus radikalere Haltung: Als Begründer der Black-Power-Bewegung setzte er auf Militanz, Separatismus, Widerstand gegen Weiße.

Am 21. Februar 1965 starb er, als Attentäter bei einem Vortrag in New York 21 Schüsse auf ihn abfeuerten. Drei Jahre später wurde auch Martin Luther King bei einem Attentat in Memphis erschossen. Bis heute sind diese Morde an den beiden Ikonen der Bürgerrechtsbewegung traumatische Daten für Schwarze in den USA.

In den zwei Jahren vor seinem Tod hatte Malcolm X an seiner Autobiografie gearbeitet, gemeinsam mit Alex Haley, einem jungen schwarzen Journalisten, talentiert und unerschrocken. Als Schriftsteller veröffentlichte Haley später den Sklaverei-Roman „Roots“, weltbekannt auch durch eine spektakuläre TV-Verfilmung. Jahrzehntelang warfen ihm Mitglieder der Familie von Malcolm X und der Organisation Nation of Islam Verfälschungen der Autobiografie vor.

Nun lässt sich anhand der verloren geglaubten Kapitel und der Notizen nachvollziehen, wie Co-Autor Haley die Aussagen von Malcolm X nachträglich verwässerte. „Die Korrekturen im Manuskript sind ein Barometer dafür, welche Worte von X stammen und welche dem Einfluss – oder der Tyrannei – seiner Korrektoren geschuldet sind“, heißt es in der Beschreibung des Auktionshauses.

Deutlich wird das etwa in einer Passage zu den Folgen der mentalen Probleme seiner Mutter: „Ein Richter McClellan in Lansing hatte das Sagen über mich und all meine Brüder und Schwestern“, schrieb Malcolm X. Der Richter habe entschieden, seine Mutter in eine Klinik einweisen zu lassen und ihre sieben Kinder in die Obhut von Pflegefamilien zu geben. Schließlich habe die Mutter einen kompletten Nervenzusammenbruch erlitten: „Ein weißer Mann hat die Kontrolle über die Kinder eines schwarzen Mannes! Nichts anderes als legale, moderne Sklaverei!“ Im Manuskript merkt einer der Korrektoren handschriftlich „jedoch mit guten Absichten“ an – eine Einschränkung, die es ins gedruckte Buch schaffte.

Rascher Aufstieg zum Wortführer

Haley versuchte offenbar wiederholt, die Tonalität der Aussagen von Malcolm X zu verändern und seine eigenen Überzeugungen einfließen zu lassen. Die beiden rangen um die Kontrolle. Haleys Einfluss gipfelte darin, dass er drei Kapitel – darunter das nun aufgetauchte „The Negro“ – einfach strich. Malcolm X hatte auf ihrem Abdruck bestanden, doch das Buch erschien erst nach seinem Tod. So prägte Haley das Bild von Malcolm X posthum maßgeblich mit.

Bevor Malcolm X zum charismatischen Anführer der Bürgerrechtler wurde, verbrachte er, geboren am 19. Mai 1925 als Malcolm Little in Omaha (Nebraska), seine Kindheit in Armut. Nach dem frühen Tod des Vaters litt die Familie Hunger, seine Mutter kämpfte mit psychischen Problemen und konnte die sieben Kinder nur notdürftig versorgen. Malcolm kam zu weißen Pflegeeltern, zog 1941 nach Boston und beging erste kleinere Kriminaldelikte.

1947 wurde er wegen Einbrüchen zu zehn Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis bildete er sich in Geschichte, Philosophie und Rhetorik weiter und kam durch seine Geschwister zur religiös-politischen Organisation Nation of Islam (NOI). Deren Anhänger legten ihre Nachnamen ab. Malcolm Little nannte sich fortan Malcolm X. Das X stand für den unbekannten afrikanischen Familiennamen; weg mit dem verhassten, bei der Verschleppung durch Sklavenhändler verpassten Namen.

Nach der Haftentlassung stieg er unter den Augen seines Mentors Elijah Muhammad in den NOI-Rängen auf, war mit seinem ungewöhnlichen Redetalent bald einer der wichtigsten Wortführer und leitete den Tempel im New Yorker Stadtteil Harlem. Er prangerte den Umgang der Weißen mit Afroamerikanern als kriminell an, forderte Selbstverteidigung und radikale Trennung von der weißen Rasse.

Malcolm X prägte die Bewegung entscheidend mit, bis er sich mit NOI-Führer Muhammad überwarf. Nach dem Bruch unternahm er 1964 eine Pilgerreise nach Mekka, nahm den Namen El Hajj Malik el-Shabazz an und gründete zwei Organisationen, in denen er seine Ideen freier und offener als in der NOI darlegte, sich weniger fanatisch, toleranter, kompromissbereiter zeigte. Bei einer Versammlung ermordeten ihn Nation-of-Islam-Anhänger 1965 in New York.

Und jetzt: Die Korrekturen

Die jetzt wieder aufgetauchten Schriftstücke können besser beleuchten, weshalb er sich von der NOI löste und wohin sich seine Ideologie entwickelte. „Von allen anderen wichtigen Schwarzenführern in der amerikanischen Geschichte unterscheidet Malcolm X, dass er die beiden zentralen Charaktere der schwarzen Volkskultur vereint: Er ist der Betrüger und der Prediger“, sagte sein Biograf Manning Marable 2009 in einem Interview – hier der Junge mit den kriminellen Anfängen, dort der Erlöser der unterdrückten Schwarzen.

Als Einziger hatte Marable zuvor einen kurzen Blick auf die Dokumente werfen dürfen. Sie lagerten lange in der privaten Sammlung von Gregory Reed, der als Anwalt einst Rosa Parks vertrat – sie hatte sich 1955 geweigert, ihren Sitzplatz im Bus für Weiße freizumachen, und wurde damit schon früh zu einer Ikone der Bürgerrechtler. Reed kaufte das Buchmanuskript und die ungedruckten Kapitel für mehr als 100.000 Dollar aus dem Nachlass, nachdem Co-Autor Haley 1992 gestorben war.

Zwei Jahrzehnte recherchierte Marable für seine Biografie „Malcolm X. A Life of Reinvention“. Beim Treffen in einem Lokal überließ Reed ihm die Papiere zur Lektüre. Aber nur für ein Viertelstündchen. „Da sitze ich nun und lese frenetisch diese Seiten“, notierte Marable. „Aber ich brauche nur wenige Minuten, um zu erkennen, was sie sind: Sie wurden offensichtlich zwischen August und Dezember 1963 geschrieben. Es gibt diesen Unterton, der klarmacht, dass Malcolm noch Teil der Nation of Islam war.“

Er rief zu einem Bündnis auf, das alle schwarzen Organisationen vereinen und von der Nation of Islam geführt werden sollte. „Malcolm beschreibt die Vision, wie die Nation aktiv an antirassistischen Kämpfen teilnimmt und verschiedenste Fähigkeiten entwickelt: ökonomische Strategien, Wohnungskonzepte, Pläne fürs Gesundheitswesen. Er wollte diese religiöse semi-islamische Organisation auf aggressive Weise in der schwarzen Zivilgesellschaft etablieren“, so Marable über die Schriftstücke.

Seiner Meinung nach war Malcolm X‘ Bestreben, die Nation of Islam zu öffnen, aktiver auf andere Organisationen und die Bürgerrechtsbewegung zuzugehen, von den Führern der Gruppe nicht gern gesehen. Wiederholt wurde Malcolm X von Elijah Muhammad ausgebremst, erhielt schließlich sogar ein Redeverbot – bis es zum Bruch kam.

Marable, 2012 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, starb 2011 wenige Tage vor Erscheinen seines Lebenswerks. Er hoffte auf eine Neuauflage der Autobiografie – mit den bis dahin zurückgehaltenen Kapiteln als Anhang: „Ich habe sie für 15 Minuten gesehen. Vielleicht war ich ein Glückspilz. Aber irgendwann werden sie auftauchen. Wir werden sie sehen.“