Bleifuß und Blaulicht

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Ferrari 365 Daytona (Flickr)

Auf Rekordjagd brausten Fahrer in den Siebzigerjahren von der Ost- an die Westküste der USA. Die Polizei wartete schon auf die „Cannonball“-Temposünder. Doch die kannten Technik-Tricks und gewitzte Tarnung.

Mit Tempo 160 und wild tanzenden Alarmleuchten donnerte der Krankenwagen über die Interstate 80 in New Jersey, als im Rückspiegel ein Polizeiauto auftauchte. Der Ambulanzfahrer hielt auf dem Seitenstreifen, sprang heraus und beeilte sich zu erklären: Die Patientin an Bord sei in ganz schlechter Verfassung. „Wohin bringen Sie sie denn?“, fragte ein Polizist. „Kalifornien.“ Ungläubige Blicke. „Kalifornien?! Warum fliegen Sie nicht einfach rüber?“ Der Fahrer stapfte vorbei und öffnete die Tür zum Laderaum: „Das fragen Sie mal besser den Arzt.“

Ein großer blonder Mann überprüfte gerade die Infusion der Patientin, die bis zum Kinn zugedeckt auf der Trage lag. Verärgert blickte er auf: „Was soll das denn?“ Der Arzt erklärte den Polizisten, die Patientin habe winzige Verletzungen in der Lunge und würde einen Flugtransport wegen der Luftdruckunterschiede nicht überleben. „Wir haben 72 Stunden, um sie an eine Herz-Lungen-Maschine anzuschließen. Wie lange müssen wir hier noch rumstehen?“

Nach kurzem Zögern sprachen die Polizisten eine Warnung aus und fuhren davon. Die Ambulanz bretterte mit 160 Stundenkilometern weiter. Die Besatzung schüttelte sich vor Lachen: Ihre Tarnung hatte den Praxistest bestanden.

Die vier fuhren an diesem 1. April 1979 keinen dringenden Krankentransport, sondern den Cannonball: ein Langstreckenautorennen von New York nach Los Angeles. Die bisherige Bestzeit lag bei 35 Stunden und 53 Minuten – sie zu knacken bedeutete, beinahe permanent das Tempolimit zu übertreten.

Diese illegalen Autorennen entsprangen dem Zeitgeist der Siebzigerjahre, einem anarchischen Impuls amerikanischer Autonarren. Später in den Nullerjahren nahmen europäische Organisatoren sie sich zum Vorbild – Polizei und Gerichte versuchten, solche Cannonball- oder Gumball-Rennen zu stoppen. In den vergangenen Jahren führten immer wieder Straßenrennen junger Männer auf Autobahnen oder sogar mitten durch deutsche Innenstädte zu tödlichen Unfällen. Inspiriert wurden die Teilnehmer dabei auch durch die „The Fast and the Furious“-Filme, die in der Streetracing- und Tuningszene spielen.

Natürlich war die Raserei auch schon bei den Coast-to-Coast-Rennen der Siebzigerjahre in den USA lebensgefährlich, für die Cannonball-Fahrer selbst und erst recht für alle anderen Verkehrsteilnehmer. Also drohten bei jedem Polizeistopp Strafzettel oder gar Gefängnis.

Echt war nur der Arzt

Um sich herausreden zu können, hatte das Ambulanz-Team einen Dodge-Van mit Zubehör aus einem Medizinfachgeschäft ausgerüstet und mit großen Aufklebern als „TransCon MediVac“ gekennzeichnet. So beschreibt es der Journalist Brock Yates in seinem Buch „Cannonball! World’s Greatest Outlaw Road Race“. Er selbst saß damals am Steuer, neben ihm Hollywoodregisseur Hal Needham, beide in Sanitäteruniform. Auf der Trage lag Yates‘ kerngesunde Ehefrau Pamela. Einzig der Arzt war ein echter Mediziner.

„Es gibt nur eine Regel: Es gibt keine Regeln“, lautete das Cannonball-Motto. Zum illegalen Autorennen quer durch Amerika konnten die Teilnehmer mit jedem beliebigen Fahrzeug antreten und die Route selbst festlegen. Fünfmal lief das Rennen zwischen 1971 und 1979.

Was als Abenteuer einer kleinen Gruppe von Autoverrückten begann, wurde durch Hollywoodfilme beim breiten Publikum zur Legende – von „The Gumball Rally“ bis „The Cannonball Run“ mit Burt Reynolds, deutscher Titel: „Auf dem Highway ist die Hölle los“. Bis heute stellen Fahrer neue Rekorde für die Strecke auf, zuletzt 2013 Ed Bolian in 28 Stunden und 50 Minuten mit einem aufgemotzten Mercedes CL55 AMG.

Am Anfang stand weniger die Rekordjagd, sondern eine Protesthaltung im Vordergrund: Das frische Highwaynetz ermöglichte erstmals schnelles, bequemes Reisen durch die Vereinigten Staaten. Doch das neu eingeführte Tempolimit stieß vielen Autoliebhabern sauer auf. Enthusiasten wie Brock Yates – damals beim Automagazin „Car and Driver“ – protestierten, dass gezügelte Pferdestärken und Sicherheitsbedenken sich auf die Autoindustrie auswirken würden.

„Sie behaupten, es ist ein Protest gegen die Kampagne der Regierung, anstelle von schlechten Fahrern die Autos für Unfälle verantwortlich zu machen – was, wie sie sagen, dazu führt, dass Autos so schwer und schwerfällig gefertigt werden, dass es keinen Spaß mehr macht, sie zu fahren“, schrieb „Sports Illustrated“ 1975 über den offiziellen Rennzweck. Der Bericht schloss mit dem inoffiziellen, dem naheliegenden Grund: „Außerdem ist es ein Riesenspaß.“

Die Campingtoilette – keine gute Idee

Bereits 1914 hatte der legendäre Motorradfahrer Erwin „Cannonball“ Baker die USA durchquert. 1933 fuhr er in einem Auto vom Typ Graham Paige Model 57 auf unbefestigten Straßen in 53,5 Stunden von Küste zu Küste. Inspiriert von diesen Rekordfahrten kam Yates auf den Namen Cannonball. Im Mai 1971 unternahm er in einem Dodge Van eine erste Zeitfahrt von Ost nach West, nur in Begleitung eines Magazinkollegen und seines 14-jährigen Sohnes Brock Jr., der vom Rücksitz aus nach Polizisten Ausschau hielt. Das Team brauchte knapp 41 Stunden. Danach schrieb Gates in seiner Magazinkolumne:

Oh Gott, die anarchistische Barbarei des Ganzen! Da draußen die 31.000 Meilen von Uncle Sams Super-Highways, unterwegs mit einer Geschwindigkeit, die manchmal über der legalen Grenze liegt, in einem bewussten Bruch unserer Verkehrsregeln. So wird es laufen, Autofreaks, das war die erste Demonstration, dass manche Menschen in der Lage sind, ihr eigenes Schicksal am Steuer eines Automobils zu bestimmen.

Kurz nach seinem euphorischen Bericht trudelte ein Telegramm in der Redaktion ein: „Wir werden dich klar besiegen“ – schönen Gruß von der Vereinigung polnischer Rennfahrer in Amerika (PRDA). Eine Kampfansage. Der Countdown war eröffnet.

Im November 1971 traten acht Teams zum Cannonball an: von der Red Ball Garage in New York bis zum Portofino Inn in Redondo Beach, einem beliebter Rennfahrertreff. An Start und Ziel waren Zeitkarten abzustempeln. Um die Zahl der Stopps zu reduzieren, hatten die PRDA-Fahrer ihren Chevrolet Van mit Extra-Tanks sowie einer Campingtoilette ausgerüstet – die sollte sich auf der Ladefläche des Vans jedoch bei den hohen Geschwindigkeiten als unpraktisch erweisen.

„Wir sind nie schneller als 276 km/h gefahren“

Ebenfalls im Rennen waren ein 1969er AMX, ein Wohnmobil und ein Cadillac DeVille, der von New York nach Los Angeles überführt werden sollte. Der Eigentümer hatte per Annonce in der „New York Times“ nach Fahrern gesucht und ihnen aufgetragen, den Wagen weder im Dunkeln zu fahren, noch das Tempolimit zu überschreiten – beide Regeln brachen sie schon bei der Ausfahrt aus Manhattan.

Yates organisierte sich einen blauen Ferrari Daytona und den Rennfahrer Dan Gurney als Teamkollegen. „Wir sind nie schneller als 276 km/h gefahren“, kokettierte Gurney in Los Angeles vor Reportern, nachdem das Duo den Sieg mit 35 Stunden und 54 Minuten geholt hatte. Um bei der Raserei nicht aufzufallen, installierten viele Teams Radardetektoren, manche sogar Störsender und blockierten so Signale von Geschwindigkeitsmessern. Per CB-Funk tauschten sie sich mit Truckern über Polizeikontrollen aus und achteten permanent auf Streifenwagen, geparkt am Straßenrand oder auf Brücken.

Gurney und Yates schafften es bis nach Arizona, ehe der Rennfahrer eine 90-Dollar-Strafe bekam. Im Folgejahr verkleidete sich ein Team als Priester. Die „Flying Fathers“ erklärten bei einer Polizeikontrolle, sie müssten ihren Mercedes schnellstens zum Monsignore nach Kalifornien überführen – um eine Strafe von 310 Dollar kamen sie trotzdem nicht herum.

Die Ölkrise verpasste dem Autoverkehr in den USA ab 1973 einen herben Dämpfer, auch der Cannonball legte nach 1975 eine Zwangspause ein. Umso größer war der Andrang beim Rennen 1979. Es zog über 40 Teams mit kreativen Strategien an. Während Yates im falschen Krankenwagen unterwegs war, brauste ein Team als Strahlenexperten mit Klemmbrettern und Geigerzählern durchs Land. Zwei Hollywood-Stuntmänner traten mit blonder Perücke und „Just married“-Schild auf einem Motorrad an.

Ein Motorschaden stoppte den Krankenwagen

Aus England wurde ein alter Rolls-Royce samt Fahrer verschifft: Die Eigentümer flogen per Concorde ein, übernachteten im Luxushotel Waldorf Astoria und ließen sich vom Chauffeur an die Westküste fahren, gefolgt von einem Begleitfahrzeug. Yates‘ Ambulanz brach im kalifornischen Palm Desert mit Motorschaden zusammen und musste per Laster zum Parkplatz des Portofino Inn geschleppt werden. Das Siegerteam stellte im 1978er Jaguar XJS eine neue Rekordzeit auf: 32 Stunden und 51 Minuten bis an die Westküste.

Obwohl es an Fans nicht fehlte, war dann Schluss mit dem Cannonball. Der Verkehr wurde dichter, die Polizeipräsenz stärker, das Vollgasfahren schwieriger. Am Ende verhinderten Sicherheitsbedenken ein weiteres Rennen. Als nämlich ein Fahrer im Lamborghini Countach, schon nah an einer Rakete auf Rädern, antreten wollte, wurde selbst dem Autonarren Brock Yates mulmig: „Es ist eine Sache, einen Weltklassefahrer ein Auto mit einer solchen Geschwindigkeit fahren zu lassen, aber eine andere, einen Amateur mit einer wilden Maschine wie dieser auf den öffentlichen Highways loszulassen“, schrieb er in seinen Erinnerungen.

Jahre später bekam Yates einen Anruf von Marc Fenech, Staatspolizist in New Jersey. Denn Regisseur Hal Needham, Beifahrer von Yates, hatte die Verkehrskontrolle der falschen Ambulanz für „The Cannonball Run“ verfilmt. Sein Partner habe die Szene wiedererkannt, erzählte Fenech – beide hätten noch Jahre später darüber gelacht, wie sie reingelegt wurden.

(einestages)