Drei Kugeln gegen den Nazi-Terror

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Nazi-Terror gegen die Juden in Deutschland (Flickr)

Vor 80 Jahren erschoss der jüdische Student David Frankfurter in Davos den NSDAP-Funktionär Wilhelm Gustloff. Die Nazis starteten einen Propagandafeldzug, der die Beziehungen zur Schweiz schwer belastete.

 Es ist eine eiskalte Nacht, als David Frankfurter zum Mörder wird. Am Abend des 4. Februar 1936 klingelt der 26-jährige jüdische Student an einem blauen Haus am Kurpark 3 in Davos. Eine Frau öffnet, er fragt: „Ist Herr Gustloff zu sprechen?“ Die Dame bittet ihn, im Arbeitszimmer ihres Mannes zu warten, des Schweizer NSDAP-Landesgruppenleiters Wilhelm Gustloff. Frankfurters Blick wandert über das Hitler-Porträt mit der Widmung „Meinem lieben Gustloff“ und über den darunter blitzenden Ehrendolch. „Ungezügelte Wut stieg in mir auf“, wird Frankfurter sich 1950 im „Commentary“-Magazin an den Moment erinnern, der sein Leben verändert.

Als Gustloff eintritt, so Frankfurter, erscheint er ihm wie der Riese Goliath. Alles geht schnell: Der Student zieht seinen Revolver, drückt mehrmals ab. Drei Kugeln treffen den Gauleiter, eine geht in die Wand. „Gustloff wankte und fiel und lag vor mir in einer Blutlache“, erinnert sich Frankfurter später.

Die panischen Schreie der Ehefrau im Ohr flüchtet er vom Tatort in ein nahes Feld. Er hadert mit seinem Plan, sich nach dem Mord umzubringen – und stellt sich stattdessen der Polizei. „Sie haben so gute Augen. Warum haben Sie das getan?“, fragt ihn Gustloffs Witwe bei der Gegenüberstellung. Frankfurters Antwort lässt sie aufschreien: „Weil ich Jude bin!“

Hitlergruß auf der Kurpromenade

Ein Mord aus Wut über die Judenverfolgung: Der Fall Frankfurter sollte 1936 die diplomatischen Beziehungen zwischen Hitler-Deutschland und der Schweiz schwer belasten. Die Eidgenossen hatten NS-Aktivitäten auf ihrem Boden bis dahin stillschweigend geduldet. Nun musste der Mord juristisch aufgeklärt werden, ohne das Nachbarland zu verärgern.

Eilig versicherte der Schweizer Außenminister Guiseppe Motta laut „Völkischem Beobachter“ Berlin seine „tiefste Bestürzung“ über das „verabscheuungswürdige Verbrechen“. Doch nur wenige Tage später verbot der Bundesrat die Neubesetzung der Schweizer NSDAP-Landesgruppenführung; die Partei blieb allerdings erlaubt. Das NS-Regime war empört. Der deutsche Gesandte Ernst von Weizsäcker erklärte, Gustloff habe sich stets an die Gesetze in seinem Gastland gehalten. Deutschlands Medien warfen der Schweizer „Hetzpresse“ eine Mitschuld am Attentat vor, weil sie zuvor die Aktivitäten des Gauleiters kritisiert hatte.

Schon 1917 war Gustloff wegen eines Lungenleidens ins Kurbad Davos gekommen – und nach seiner Genesung geblieben. Er arbeitete für das meteorologische Forschungsinstitut und engagierte sich in seiner Freizeit so eifrig für die NSDAP, dass Hitler ihn 1932 zum Landesgruppenführer Schweiz ernannte. Damit unterstanden Gustloff sämtliche Schweizer NS-Organisationen, deren Mitglieder er auf den Führer vereidigte. Sein Treiben war so erfolgreich, dass Davos schon bald als „Hitlerbad“ bekannt wurde, in dem der Hitlergruß auf der Kurpromenade ein alltägliches Bild war.

Unter Schweizer Bürgern sorgte das Nazi-Gebaren für so viel Unbehagen, dass Nationalrat Gaudenz Canova im April 1935 Gustloffs Ausweisung forderte, weil der das Schweizer Gastrecht missbrauche. Doch aus Sorge um die Beziehungen mit Hitler-Deutschland lehnte der Bundesrat die Ausweisung ab. Canova bemerkte frustriert, dass das Volk wohl zur Selbsthilfe greifen müsse – eine Äußerung, die in Deutschland unvergessen blieb. Erst recht nach David Frankfurters Tat.

Als Märtyrer gefeiert

Gustloff wurde in Deutschland als Märtyrer gefeiert: Sein Leichnam wurde in einem Sonderzug von Davos nach Schwerin überführt. Zwei Tage lang hielten Sturmtruppen eine Totenwache neben der aufgebahrten Leiche. Adolf Hitler selbst hielt die Trauerrede, bevor Gustloff am 12. Februar 1936 mit allen NS-Ehren beigesetzt wurde.

Posthum wurde er zum „Blutzeugen“ erklärt – ein Begriff, mit dem das Regime einen Heldenkult um gefallene Nazis begründen wollte. Gustloff zu Ehren wurden Straßen benannt, Denkmäler geweiht und schließlich das Kreuzfahrt- und Lazarettschiff getauft, dessen Untergang 1945 als schlimmstes Schiffsunglück der Geschichte gilt.

Der Propagandaapparat lief auf Hochtouren: Deutsche Medien spekulierten über Frankfurters Hintermänner, die die Nazi-Theorie von der „jüdischen Weltverschwörung“ stützen sollten. Im Auftrag Berlins machte Weizsäcker so lange Druck auf die Schweiz, bis für den Prozess auch ein deutscher Strafverfolger zugelassen wurde – NS-Anwalt Friedrich Grimm vertrat Gustloffs Witwe als Nebenklägerin. Zugleich schickte Goebbels seinen Chef-Propagandisten Wolfgang Diewerge zum Prozessauftakt am 9. November 1936, um der deutschen Berichterstattung NS-Schliff zu verpassen: Der jüdische Angeklagte wurde als jämmerlich und feige verunglimpft, seine Anwälte als Provokateure, ihre Beweisführung als deutschenfeindlich.

„Auf dieses Niveau steige ich nicht hinab“

Ein fairer Prozess war unter diesen Umständen kaum möglich. Die Ankläger sprachen von politischem Mord – ein politisches Motiv für die Tat wollten sie aber nicht gelten lassen. Verteidiger Eugen Curti versuchte, den Richter von der seelischen Zerrüttung seines Mandanten zu überzeugen. In seinem sechsstündigen Schlussplädoyer führte Curti Beweise für die Gräuel in deutschen Konzentrationslagern an und folgerte, all dies habe bei seinem Mandanten zu einem „schleichenden Affekt“ geführt.

NS-Anwalt Grimm wischte das Plädoyer vom Tisch: „Auf dieses Niveau“, so zitierte ihn die „Kölnische Zeitung“ 1936, „steige ich nicht herab. Das ist alles so niedrig, dass es uns nicht an die Schuhsohlen heranreicht.“ Er erklärte Curtis Beweisführung zu einem politischen Angriff, der „eine einzige Beleidigung eines der Schweiz befreundeten Landes“ gewesen sei.

Der Prozess endete am 14. Dezember 1936 mit einem Schuldspruch für Frankfurter. Statt der Höchststrafe von 25 Jahren verurteilte ihn das Gericht zu 18 Jahren Zuchthaus und anschließender Landesverweisung.

Neun Jahre saß er für seine Tat im Zuchthaus. Drei Wochen nach Kriegsende wurde Frankfurters Gnadengesuch genehmigt. Die Ausweisung blieb jedoch gültig: Am 1. Juni 1945 verließ David Frankfurter das Gefängnis und emigrierte nach Israel. Erst 24 Jahre später sollte die Schweiz den Landesverweis wieder aufheben. Doch Frankfurter hatte beschlossen, den Rest seines Lebens in seiner neuen Heimat zu verbringen. Er arbeitete im israelischen Verteidigungsministerium, heiratete und wurde Vater zweier Kinder. 1982 starb David Frankfurter mit 73 Jahren in Tel Aviv.

(erschienen auf einestages)