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Victoria Woodhull (Flickr)
Victoria Woodhull (Flickr)

Sie war Wahrsagerin, Aktienhändlerin, Verlegerin. Sie wollte freie Liebe, zudem erste US-Präsidentin werden – 1872, als Frauen noch nicht mal wählen durften. Victoria Woodhull führte ein höchst ungewöhnliches Leben.

Gleichberechtigung, Lohngleichheit, Krankenversicherung für alle, Gefängnisreform… klingt das nicht ganz nach dem Wahlprogramm von Hillary Clinton? Sofern ihre unterkühlte Macht-Maschine nicht auf den letzten Metern von der aggressiven Ich-Maschine Donald Trump überholt wird, gelangt Clinton als erste Frau ins wichtigste Regierungsamt der Welt. Sie hatte indes sehr frühe Vorgängerinnen – denn die Positionen von Gleichberechtigung bis Krankenversicherung sind bereits 144 Jahre alt.

Vertreten hat das damals Victoria Claflin Woodhull. Als erste Frau überhaupt bewarb sie sich 1872 um die US-Präsidentschaft – obwohl nicht einmal sie selbst sich wählen durfte. Das komplette Wahlrecht auf allen Ebenen erhielten Frauen in der Vereinigten Staaten erst 1920 per Verfassungszusatz.

Woodhull war eine Pionierin der Frauenrechte, ihre Kandidatur der Höhepunkt eines unkonventionellen bis exzentrischen Lebens. Nach eigener Aussage hatte sie keinerlei Schulbildung genossen und mit Anfang 30 schon multiple Karrieren hinter sich: als Wahrsagerin, Heilerin, Tänzerin und New Yorks erste Aktienhändlerin, als Verlegerin und Frauenrechtlerin. Sie war zum zweiten Mal verheiratet und zog ihre Tochter und den behinderten Sohn aus erster Ehe groß.

Am Wahltag in Haft

Als Victoria Woodhull ihre Kandidatur durchsetzte, war die Chancenlosigkeit ihr völlig klar. Es war ein symbolischer Akt, ein Signal für die Gleichstellung von Frauen. Im Falle ihrer Präsidentschaft wäre sie am Tag ihrer Vereidigung 34 Jahre alt gewesen, die Verfassung aber schrieb ein Mindestalter von 35 Jahren vor. Obendrein musste Woodhull den Wahltag im Gefängnis verbringen – verhaftet wegen Verbreitung vermeintlich obszönen Materials.

Dass sie es überhaupt so weit gebracht hat, grenzt an ein Wunder.

Geboren wurde Victoria California Claflin 1838 in Ohio als eines von zehn Kindern und wuchs in Armut auf. Die Mutter galt als emotional kalt, der Vater als Taugenichts, Dieb und Scharlatan. Eng verbunden blieb sie zeitlebens mit ihrer jüngeren Schwester Tennessee, mit der sie zusammen mit dem Vater auf Reisen gehen und als Kinder-Wahrsagerin auftreten musste. Victorias Sinn fürs Spirituelle sollte sich später bezahlt machen.

Als 15-Jährige heiratete sie Canning Woodhull: Trinker, Morphium-Abhängiger, chronischer Ehebrecher. Sie bekam zwei Kinder. Dass ihr Sohn geistig behindert war, schrieb Woodhull dem Suff ihres Gatten zu. Um die Familie zu ernähren, arbeitete sie als Heilerin und kurierte Kranke durch Magnetauflegen.

Scheidung trotz sozialer Ächtung

Weil ihr Mann das Geld für Geliebte verprasste, kam es zur Trennung – ungeachtet des sozialen Skandals, den eine Scheidung und der Status als Alleinerziehende im späten 19. Jahrhundert bedeuteten. Victoria verliebte sich in Bürgerkriegsveteran Colonel James Blood. Er weckte ihren Wunsch nach Bildung, unterstützte ihr Interesse an Frauenrechten und der Suffragetten-Bewegung. Die beiden heirateten 1865 und zogen mit Tennessee nach New York.

Dort arbeiteten die Schwestern als Medien, die Kontakt zu Verstorbenen aufnahmen, auch mit der verstorbenen Mutter des Eisenbahnmagnaten Cornelius Vanderbilt. Man sagte Woodhull eine Affäre nach. Die Journalistin Myra MacPherson beschreibt in ihrem Buch „The Scarlet Sisters: Sex, Suffrage, and Scandal in the Gilded Age“ jedoch Tennessee als die mit einer Beziehung zu Vanderbilt.

Auch Börsenkurse sollen sie ihm vorhergesagt haben; dafür beteiligte Vanderbilt sie an den Gewinnen. Bald hatten die Claflin-Schwestern ein hübsches Sümmchen angehäuft und eröffneten mit Unterstützung ihres Millionärsfreundes ein Büro an der New Yorker Börse: die ersten weiblichen Broker der Wall Street – eine Sensation.

Freie Liebe statt sexueller Sklaverei

Zugleich veröffentlichten die beiden ab 1870 die Wochenzeitung „Woodhull & Claflin’s Weekly“ und traten darin für Frauenrechte ein. Woodhull protestierte gegen den Doppelstandard, den sie als „sexuelle Sklaverei“ bezeichnete: Während die Gesellschaft untreue Ehemänner akzeptierte, wurden untreue Frauen stigmatisiert und sozial geächtet. Frauen sollten selbstbestimmt lieben, heiraten und sich scheiden lassen dürfen – Woodhull nannte das „freie Liebe“.

Auch für sozialistische Positionen konnten das Duo sich begeistern. Als erste Zeitschrift druckte „Woodhull & Claflin’s Weekly“ eine englische Übersetzung des Kommunistischen Manifestes von Marx und Engels.

Die New Yorker Suffragetten nahmen die Schwestern in ihre Reihen auf, obwohl sie nicht der reichen Oberschicht entstammten. Doch Woodhulls Positionen waren zu revolutionär: Sie verstand die fehlende Selbstbestimmung der Frauen als Folge eigener Passivität, nicht als Folge einer Entrechtung durch Männer. Frauen sollten aktiv Verantwortung übernehmen und sich politisch engagieren. Sie sollten sich ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben einfach nehmen – etwa so, wie Woodhull sich das Recht auf Liebschaften herausnahm.

Ihre Affären und die Angriffsfläche durch ihre erste Scheidung, das war den konservativen Suffragetten zu viel. Sie überwarfen sich mit Woodhull.

Noch 1870 gründete sie die Equal Rights Party und kündigte am 2. April 1870 im einflussreichen „New York Herald“ an, zwei Jahre später als Präsidentschaftskandidatin anzutreten: „Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich mit der Bewerbung auf diese Stelle mehr Hohn als Enthusiasmus auslöse. Aber dies ist eine Epoche der plötzlichen Veränderungen und Überraschungen. Was heute absurd erscheint, wird morgen ein seriöser Aspekt sein.“

Ebenso bestimmt sprach sie 1871 in Washington als zweite Frau in der Geschichte vor dem juristischen Ausschuss des Repräsentantenhauses. Zu dieser Zeit durften Frauen weder wählen noch gewählt werden. „Frauen sind vor dem Gesetz mit Männern gleichgestellt und haben genau die gleichen Rechte“, erklärte jedoch Woodhull. Der 14. Zusatzartikel der Verfassung spreche allen in den USA geborenen Bürgern das Wahlrecht zu; damit besäßen Frauen es de facto bereits.

Rache einer freien Radikalen

1872 nominierte ihre Partei sie offiziell, mit Frederick Douglass als Vize. Der geflohene Sklave und Aktivist trat allerdings nie als Woodhulls Sidekick auf. Stattdessen hielt er Reden für die Wiederwahl von Ulysses Grant. Doch Douglass‘ Aufstellung hatte Symbolwert – damit forderte man Freiheit gleichermaßen für Frauen wie für ehemalige Sklaven. Der deutsch-amerikanische Cartoonist Thomas Nast versah Woodhull in einer Karikatur mit Teufelshörnern und nannte sie „Mrs Satan“.

Woodhull setzte sich gegen ihre Widersacher zur Wehr, darunter Harriet Beecher Stowe. Die Autorin des Anti-Sklaverei-Buchs „Onkel Toms Hütte“ war die Schwester von Priester Henry Ward Beecher. Deshalb zögerte Woodhull nicht, die Affäre des Geistlichen mit einem seiner verheirateten Schäfchen in ihrem Journal öffentlich zu machen. Ihre Rachekampagne rief den New Yorker Sittenwächter Anthony Comstock auf den Plan. Er stufte den Artikel als obszön ein und ließ die Schwestern drei Tage vor der Wahl verhaften, wegen illegaler Verbreitung von Pornografie auf dem Postweg. Einen knappen Monat saßen sie im Gefängnis, bis zur Freilassung gegen Kaution.

Woodhulls Ruf war indes nachhaltig zerstört. Bei der Wahl ging sie unter. Der Republikaner Ulysses Grant gewann mit großer Mehrheit. Wie viele Stimmen Woodhull bekam, kann nicht mehr rekonstruiert werden. In den meisten Bundesstaaten tauchte ihr Name nicht einmal auf den Stimmzetteln auf; in anderen Staaten wurden sie vernichtet.

Woodhull bemühte sich noch zweimal um weitere Präsidentschaftskandidaturen, vergebens. 1876 emigrierte sie gemeinsam mit ihrer Schwester nach Großbritannien. Sie ließ sich ein zweites Mal scheiden und heiratete den britischen Bankier John Martin. In den folgenden 50 Jahren schrieb Woodhull Bücher und trat als Rednerin auf.

Die erste Präsidentschaftskandidatin in der Geschichte der Vereinigten Staaten, eine freie Radikale, starb hochbetagt am 9. Juni 1927 – erst sieben Jahre zuvor hatten Frauen überall in den USA das Wahlrecht erhalten.